Will Russland eine Neuordnung der Kräfte?

Iulian Fota zum Kertsch-Konflikt: „Ich würde meinen Landsleuten sagen, dass die Lage ernst ist. Der Urlaub ist vorbei!“

V.l.n.r: Răzvan Orășanu (NGO Up to us), Viorel Cibotaru (Ex-Verteidigungsminister Moldau), Iulian Chifu (CPC-EW) und die ukrainischen Experten Hryhory Perepelytsia, Mykhailo Samus.
Foto: die Verfasserin

25. November 2018. Ein Frachter, begleitet von zwei ukrainischen Militärschiffen, steuern die Meerenge von Kertsch an. Sie führt wie ein Nadelöhr vom Schwarzen ins Asowsche  Meer, ein kleines Binnenmeer zwischen der Ukraine und Russland. Als der Konvoi sich der Meerenge nähert, steht unter der Brücke, die die Krim mit Russland verbindet, plötzlich ein russischer Frachter – quer! Die Zufahrt ist versperrt. Die Schiffe wenden. Auf einmal werden sie zu See und aus der Luft bombardiert. Direkte Treffer; drei Verletzte. Die Russen beschlagnahmen die Schiffe und bringen die  ukrainische Besatzung – 24 Mann - nach Moskau. Ihnen droht dort Gefängnisstrafe: Sie werden angeklagt, russisches Territorium verletzt zu haben. Beide Seiten beschuldigen sich, auf Funksprüche nicht reagiert zu haben. Betrachtet man die Landkarte, erschließt sich das Dilemma wie folgt: Die Meerenge von Kertsch liegt genau zwischen der von Russland besetzten Krim und dem Krasnodar Krai auf dem russischen Festland. Zwar wurde die Krim 2014 von Russland illegal annektiert, was große Aufregung in der westlichen Welt verursachte. Doch eine militärische Antwort blieb aus. 

Russland hatte sich mit der Krim vor aller Augen die Kirsche von der Torte geschnappt. Eine einmalige Aktion? Oder wird es bald nach ganzen Tortenstücken greifen? Dass es bei dem Ereignis von Kertsch bei Weitem nicht nur um die Frage geht, ob die ukrainische Halbinsel jetzt „offiziell“ zu Russland gehört, wird auf der von der Hanns Seidel Stiftung und der NGO „Ține de noi“ organisierten Konferenz „Die Ostgrenze der NATO und ihre benachbarten Regionen sichern“ deutlich: Der Vorfall von Kertsch - darin sind sich namhafte Experten aus der Ukraine, der Republik Moldau und Rumänien einig - markiert einen dramatischen Lagewechsel am Schwarzen Meer. „Die NATO erlebt gerade den gefährlichsten Moment seit Ende des Kalten Krieges“, bringt es Iulian Fota, ehemaliger Leiter der Nachrichtendienstakademie des Inlandsgeheimdienstes SRI, Mitglied des Think Tanks CEPA (Analysezentrum für Europäische Policy in Washington D.C.), auf den Punkt.

Blick hinter die Kulissen

Was sich anfangs für die internationalen Beobachter etwas unklar darstellte, gilt mittlerweile als Fakt: Russlands Verhalten im Asowschen Meer ist eine militärische Provokation. „Es ist das erste Mal, dass Russland seinen Nachbarn militärisch unter eigener Flagge angreift“, verdeutlicht Iulian Chifu, Vorsitzender des Zentrums für Konfliktverhinderung und Frühwarnung (CPC-EW), der die Expertendiskussion moderiert. „Das war keine Verteidigungsoperation“, pflichtet auch Mykhailo Samus, stellvertretender Direktor für internationale Angelegenheiten im Zentrum für Armee, Konversion und Abrüstungsstudien (CACDS) in Kiew, bei. „Der Angriff auf die ukrainischen Marineschiffe war eine offene Aggression. Sie sollte zeigen: Russland will die Ukraine angreifen und testet nun die internationalen Reaktionen.“ Die Tatsache, dass die angreifenden russischen Militärschiffe beflaggt waren , gibt zu verstehen, dass sie dieses Gebiet als ihr Territorium betrachten, erklärt Samus.

Dabei ist die Rechtslage eindeutig: Von einer Verletzung russischer Hoheitsgewässer kann keine Rede sein. 2003 hatten Russland und die Ukraine einen bilateralen Vertrag unterzeichnet, demzufolge das Asowsche Meer von beiden Ländern befahren werden darf. Aus diesem Grund betrachtet die Ukraine die von Russland verschleppten Seeleute als Kriegsgefangene und fordert deren sofortige Freilassung, erklärt der ukrainische Botschafter in Rumänien, Oleksandr Bankow.

Für die Ukraine ist das Asowsche Meer von großer wirtschaftlicher Bedeutung, liegen doch an deren Küste seine beiden wichtigsten Handelshäfen, die nur über die Meerenge von Kertsch zu erreichen sind: Mariupol und Berdjansk. Doch die Kontrolle über die Meerenge hat Russland übernommen: Zuerst wurde eine Autobahnbrücke gebaut, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet – absichtlich viel zu niedrig, sodass größere Schiffe nicht durchpassen und der teure, komplizierte Landweg über russisches Gebiet erfolgen muss. Zudem verzögern Kontrollen bewusst die Einfahrt ukrainischer und ausländischer Handelsschiffe. Früher betrugen die Wartezeiten Stunden, heute sind es bis zu sieben Tage. Die Verzögerungen verursachen hohen wirtschaftlichen Schaden – pro Schiff und Wartetag an die 20.000 US-Dollar – der nicht nur die Ukraine betrifft. „Von 66 Schiffen, die die Russen an der Meerenge von Kertsch aufhalten, sind über 30 aus der EU“, verdeutlicht Hryhory Perepelytsia, Analyst an der Diplomatischen Akademie Kiew.

Die Ursachen liegen auf der Hand

Der Konflikt von Kertsch kam nicht von ungefähr, erklärt Iulian Chifu. Dass dieser einen Lagewechsel markiert, zeigt auch die Tatsache, dass erst im September ein ähnlicher ukrainischer Konvoi die Meerenge ohne Zwischenfall passierte. Was hatte sich geändert?

Das ukrainische Parlament hat am 22. November für einen Verfassungszusatz gestimmt, der die Absicht, der NATO und der EU beizutreten, verankert, erläutert Chifu. Hinzu kommen schwere Verstimmungen wegen der im Oktober erfolgten Anerkennung der ukrainischen orthodoxen Kirche als eigenständige Kirche durch das Patriarchat von Konstantinopel. Zuvor war sie dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Auch spiele eine Rolle, dass die Ukraine russischen Truppen den Zugang zu Transnistrien über ukrainisches Gebiet verwehrt; diese fliegen nun über Chi{in²u ein, erklärt Chifu.
„Den Kertsch-Konflikt kann man direkt verbinden mit dem ukrainischen Wunsch, die Verfassung zu ändern, um der NATO und der EU beizutreten“, meint auch Perepelytsia. Der Vorfall sei nur eine von vielen Aggressionen seitens Russland. „Dieser Krieg ist Teil eines größeren Krieges, ein Hybrid-Krieg gegen die Ukraine und den ganzen Westen.“

Was will Russland?

„Die geopolitischen Veränderungen nach Ende des Kalten Krieges von bipolar zu multipolar erlaubte Russland, sich als Weltmacht neu zu erfinden“, erläutert er die Hintergründe. Russland wolle das militärische Gleichgewicht ändern und eine neue Weltordnung herbeiführen. Vor allem wolle es wieder Kontrolle über die nach dem Zerfall der Sowjetunion abgespaltenen Länder, um sich mit diesen zusammenzuschließen, als Gegenpol zur EU. Die zunehmende Unabhängigkeit der Ukraine und deren Orientierung hin zu westlichen Werten ist Russland daher ein Dorn im Auge. Botschafter Bankow erläutert: Im russischen TV werde stark Propaganda gegen NATO und EU betrieben. „Sie werden dort als Bedrohung für die Bevölkerung dargestellt. Und damit ist die Ukraine, die demonstriert, dass man auch andere Wege gehen kann, eine direkte Bedrohung des russischen Modells. Denn wir zeigen, dass die EU keine Gefahr ist, sondern eine Chance auf Weiterentwicklung.“

„Russland will wieder Supermacht werden“, meint Perepelytsia. Chifu ergänzt: „Russland will zurück in den Kalten Krieg - und ihn diesmal anders verhandeln. Doch dafür muss es erst wieder Weltmacht werden.“ Als Indiz dafür sieht er auch die Verletzungen des Vertrags zum Verzicht auf Mittel-streckenwaffen. Wenn Russland auf das Ultimatum, das die USA hierzu gestellt haben, nicht reagiert, wollen die Vereinigten Staaten das Abkommen aufkündigen. Dann wären wir wieder am Ende des Kalten Kriegs.

„Russland sucht Konflikt mit der NATO“

Die Blockade des Asowschen Meeres sei zu erwarten gewesen, manche Analysten hatten sie vorhergesagt. Das Verhalten Russlands im Asowschen Meer bestätigt das Interesse an einer Kontrolle des Binnenmeers. „Russland hat uns dort eine Bohrinsel entwendet und stiehlt damit unser Gas“, führt Perepelytsia als Beispiel an. Botschafter Bankow liefert weitere Argumente: die zunehmenden Schikanen an der Meerenge von Kertsch; unerlaubte Kontrollen im gemeinsamen Binnenmeer, über 100 russische Schiffe zirkulieren dort. Der Vorfall von Kertsch sei eine weitere Annektierung, vermittelt er die ukrainische Sicht der Dinge. „Und die Russen werden weiter provozieren - bis sie jemand stoppt!“

„Im Dezember tritt das neue Gesetz in der Ukraine vielleicht schon in Kraft“, warnt Bankow. „Dann wird die Ukraine eine echte Bedrohung des russischen Modells.“ Soll man die Präsenz der NATO-Schiffe im Schwarzen Meer erhöhen? Oder auf Deeskalationsstrategien setzen? Den Vorschlag eines internationalen Monitorings, etwa im Rahmen der OSZE, wurde von Russlands Außenminister Lavrov bereits abgebügelt: Da gäbe es nichts zu überwachen, das sei rein russisch-ukrainisches Gebiet.„Ist die NATO schwach genug, um sich von Russland weiter provozieren zu lassen?“ fragt Bankow.
Samus kontert: „Seit zwei Tagen (z.Zt. der Konferenz, 7. Dezember) befindet sich ein US-Zerstörer in der Nähe von Sewastopol, als Demonstration, dass es freie Schifffahrt gibt.“Tatsächlich ist die Meerenge jetzt wieder passierbar.

„Was passiert, wenn neue Bedrohungen an der Ostflanke Europas geschehen?“ fragt Perepelytsia. Er ist überzeugt: „Russland sucht den militärischen Konflikt mit der NATO im Schwarzen Meer.“

Steht Invasion der Ukraine bevor?

Wenn Russland eine Neuordnung der Balance der Supermächte will, braucht es die Kontrolle über das Schwarze Meer. Das Schwarze Meer ist als Plattform für einen Krieg mit der NATO essentiell, mit der Krim als militärische Basis, glaubt Perepelytsia und prognostiziert: „Die Annektierungen werden also weitergehen.“ Er befürchtet, Russland bereite als nächsten Schritt eine militärische Intervention in der Ukraine vor, um den südöstlichen Teil von Nikolaiev Oblast über Odessa bis Transnistrien zu besetzen. Der Ablauf sei wie folgt zu erwarten: Erst werde man vollständige Kontrolle über das Asowsche Meer erlangen und anschließend das Modell auf das Schwarze Meer ausdehnen. Russland könne dann den Bosporus blockieren und auch die Schifffahrt auf der Donau kontrollieren.

Von der Krim aus könnten russische Cruise Missiles und Abwehrraketen von ihrer Reichweite das gesamte Schwarze Meer abdecken, einschließlich Teile der Türkei und Rumäniens. „Die Ukraine wird sich verteidigen, aber mit der Annektierung der Krim hat sie ihre Flotte verloren“, meint der Analyst. Russlands nächstes Ziel sei, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören. „Der Westen aber hat Angst vor einem Krieg mit Russland auf russischem Territorium.“

„Die Wahrscheinlichkeit eines full-scale Angriffs auf die Ukraine ist sehr hoch“, bestätigt Samus. „Seit 2015 baut Russland massiv militärische Infrastruktur auf, mit offensivem Charakter, nur 10 bis 15 Kilometer von der ukrainischen Grenze .“ Militärisch sei Russland bereits in der Lage, innerhalb von Stunden und ohne Vorbereitung eine full-scale Operation gegen die Ukraine zu fahren. Der Angriff würde blitzschnell und in mehrere Richtungen ablaufen, in den ersten Sekunden würden Hunderttausende Raketen mit 1500 Kilometern Reichweite die gesamte Infrastruktur des ukrainischen Hauptquartiers und die Kommunikation zerstören, um die terrestrische Invasion vorzubereiten. „Das ist ein absolut realistisches Szenario“, betont Samus.
Chifu relativiert: „Russland hat keine Nachhaltigkeit.“ Für mehr als 30 Tage könne man eine Besetzung der Ukraine derzeit nicht gewährleisten - „außer mit Einsatz von Atomwaffen, aber ich bezweifle, dass sie das tun.“

Ziel: Europa spalten


Auf jeden Fall strebe Russland wieder eine Teilung Europas an. Osteuropa soll unter russischen Einfluss gelangen, darin sind sich die Experten einig. Das Terrain werde bereits vorbereitet, auch mit informationellen Mitteln. EU-Kritiker und innere Krisen in den EU-Ländern spielen den Russen dabei in die Hände.
„Die Republik Moldau hat sich bereits von der EU abgewendet“, bedauert der ehemalige Moldauer Verteidigungsminister und Gründer von CID NATO, Viorel Cibotaru. „Ich glaube, wir haben viele Chancen verloren.“ Das Land ist gespalten: „Wir haben große Diskrepanzen beim Fällen von Entscheidungen: Der Präsident macht russische Propaganda und spricht zu Putin als Vertreter Moldawiens - und der Premier spricht in Washington als Vertreter Moldawiens. Nachrichtendienste und Militär sind noch als patriotisch zu betrachten; die Bevölkerung ist zu etwa 50 Prozent pro-EU. Eine schlechte Entwicklung...“

Iulian Fota hält die zunehmende Anti-EU-Stimmung für ein ernstzunehmendes Sicherheitsrisiko. „In den wichtigen EU-Ländern gibt es große interne Probleme – Frankreich, Deutschland. Diese beschränken stark die Fähigkeit, auf die Sicherheitslage am Schwarzen Meer einzuwirken.
Die Auseinanderdrift in der Entwicklung Moldawiens und der Ukraine hält er für bedenklich. Früher waren beide Ex-UdSSR-Staaten gleichermaßen am Westen interessiert, dann trat in Moldawien eine Veränderung ein. „In den nächsten 10 bis 15 Jahren wird es in Osteuropa keine Neutralität mehr geben, entweder bist du mit dem Westen oder mit dem Osten“, warnt er. „Moldawien hat dem Westen schon den Rücken zugedreht – und dieser weiß das!“ Für Rumänen empfiehlt Fota dringend mehr ideologische Klarheit in Bezug auf die EU.

Seine Hauptsorge aber besteht in der fehlenden Fähigkeit, Sicherheitsaspekte zu bewerten, kritisiert er: „Hier in Rumänien sind wir sehr entspannt. Dieses ist das erste Meeting seit zwei Wochen, wo das Thema angesprochen wird. Statt dessen innenpolitische Diskussionen ohne Ende.“
In Anbetracht der Lage fordert Fota mehr regionale Kooperation in Osteuropa und die unbedingte Erhaltung der militärischen Präsenz der USA in Rumänien. „Wir müssen unsere Verteidigung verstärken – und haben nicht einmal den Mut, der Bevölkerung zu sagen, wie ernst die Lage ist.“
„Was würden Sie tun, wenn Sie Premierminister wären?“ fragt jemand aus dem Publikum. Ohne zu zögern antwortet Fota: „Ich würde meinen Landsleuten sagen, dass die Lage ernst ist. Der Urlaub ist vorbei!“