„Wir werden eine Nummer“ (II)

Rekonstruktion des Deportationsgeschehens im Spiegel von Erinnerungen

Ein großes Problem stellte das Waschen dar. Selten bestand die Möglichkeit, sich im Keller kalt waschen oder gar nach Beendigung der Arbeit warm duschen zu können. In einem Lager in Enakievo – dort waren viele Hermannstädter untergebracht – gab es auch zwei Monate nach der Ankunft „noch immer keine Waschgelegenheit“, wie Daniel Bayer am 21.3.1945 in seinem Tagebuch vermerkt; deshalb wusch er sich verbotenerweise in der Wäscherei, wo eine Bekannte arbeitete. Das bestätigt ein Bericht aus einem anderen Lager:

„Am schlimmsten mit ist die Waschangelegenheit. Ein einziger Wasserhahn existiert im Hof für die 800 Lagerinsassen. Wenn er im Winter einfriert, bleibt nur die Waschküche, in die aber niemand eintreten darf. Es wird dort nur Wäsche gewaschen. Wer sich mit den ungarischen Waschfrauen gut steht, kann sich seinen Topf füllen, die anderen betteln in der Küche oder verzichten von vornherein auf jede Sauberkeit. Wir Deutschen waschen uns regelmäßig nach der Arbeit in einfachen Schüsseln im Zimmer. Wehe, wenn uns der russische Offizier dabei erwischt! Es ist strengstens verboten. (...) Während unserer ganzen Lagerzeit haben wir darum gekämpft, uns täglich waschen zu können.“

Weil die Wasserleitungen in Konstantinovka eingefroren waren, hatte eine Gruppe „keine andere Arbeit“ als das Wasser für die Küche und zum Waschen „von einem abgelegenen Brunnen“ herbeizuschaffen. Dazu banden sie Fässer auf einen Schlitten oder befestigten eine Botschka (russ. Fass) auf einem Karren, wie die Zeichnung von Liselotte Hermann aus Mediasch von 1948 zeigt.
Umso wichtiger war, dass die gesamte Lagerbelegschaft zum Baden ging. Befand sich keine Duschanlage auf dem Lagergelände, marschierte eine lange Kolonne ins städtische Bad. Das folgende Zitat aus dem Bericht von Edith Paly von 1947, wiederum aus Enakievo, gibt die Situation plastisch wieder:

„Jede zweite Woche ging’s zum Baden in die etwa eine halbe Stunde entfernte Bade-Anstalt. Immer einzelne Gruppen von 80-100 Mädel gingen, meistens nachts. Lag man dann so gerade im besten Schlummer, war Wecken. ‘Aufstehen, Fertigmachen zum Baden.’ Wir waren meistens nicht sehr erbaut davon. Draußen war stockfinstere Nacht, kalt oder regnerisch, wir verschlafen u. kamen aus dem warmen Bett. Im Vorraum der Bade-Anstalt mussten wir uns ganz entkleiden. Kleider u. Wäsche beim Schalter zur Entlausung abgeben. Im Waschraum waren mehrere kalte u. warme Duschen. Wir fassten 1 St. Seife oder Seifenpulver u. etwas Petroleum für die Kopfwäsche. Eine Viertelstunde war für die Reinigung bewilligt. Dann saßen wir in einem Warteraum u. warteten auf unsere entlauste Wäsche u. Kleider. Dabei froren wir ganz entsetzlich, denn es war nicht immer geheizt, u. wir saßen da im Evakostüm. Oft dauerte es stundenlang, bis wir die Kleider bekamen, dampfend, heiß, zerknüllt in Bündeln kamen sie beim Schalter heraus. Hatten wir dann diese heißen Kleider an, marschierten wir wieder eine halbe Stunde durch die finstere kalte Nacht ins Lager zurück.“

Dass der Aufenthalt im Bad auch noch andere Gefühle hervorrief, möchte ich als nächstes schildern.

Die Internierten, die in der Hierarchie des Lagers das letzte Glied bildeten, fanden sich in einer gänzlich unbekannten Situation vor. Nicht nur die äußeren Zeichen – Stacheldraht, Wachtürme, Bewacher und vieles andere – machten ihnen ihre Unfreiheit bewusst. Auch die Verhaltensweisen und Anordnungen der Lagerleitung, des Wachpersonals, der Arbeitgeber – Appelle bei Schnee und Hitze, Kürzung von Lohn u. ä. – ließen sie ihren untergeordneten Status täglich spüren. Sie mussten lernen, eine neue Rolle zu übernehmen, auf die Erwartungen der neuen Umgebung zu reagieren – es begann ein mühsamer Anpassungsprozess.

Was im Laufe der Internierungszeit als notwendig erkannt und akzeptiert wurde, war am Anfang ein Schock. Bereits am ersten Tag ihres Lageraufenthaltes wurden die Internierten mit einer notwendigen Regel konfrontiert: Bad und Entlausung. Das macht das folgende Zitat von Erika Fronius aus Mediasch aus dem Jahr 1947 anschaulich:

Im Bad „bekamen wir jede einen eisernen Kleiderhaken, wo wir die Sachen zum Entlausen aufhängten. Dieses war uns ganz neu, weil wir doch nie entlaust worden sind. Was uns am meisten entsetzte, war, dass wir uns vor den Russen, die da ihren Dienst versahen, ganz nackt ausziehen mussten. Zu Hause hätten wir uns nicht mal vor der Mutter oder der Schwester nackt gezeigt und hier, hier mussten wir es sogar vor den Russen. Später dann unter der Dusche ging nicht nur der Dreck von uns weg, nein, unsere ganze Scham wurde mit abgewaschen.“

Unvorbereitete und befohlene Herabsetzung der Schamschwelle, sprich: Nacktheit bedeutete Demütigung. Die Gewöhnung daran hatte einen hohen Preis: „Unsere ganze Scham wurde mit abgewaschen“ – das traditionelle Selbstbild kam ins Wanken.