„Wir werden eine Nummer“

Rekonstruktion des Deportationsgeschehens im Spiegel von Erinnerungen (I)

Am gestrigen Tag hatten wir u. a. Gelegenheit, an Erinnerungen unterschiedlicher Art teilzuhaben sowie über ihre Bedeutung für das kollektive Gedächtnis nachzudenken. Im Folgenden möchte ich mit meinen Ausführungen die große Bedeutung der Erinnerungen unterstreichen. Darü-ber hinaus liegt mir daran, darauf aufmerksam zu machen, dass Erinnerung nicht identisch ist mit dem Geschehen; dass dasselbe Geschehen sehr unterschiedlich erlebt und erinnert werden kann; dass eine Erzählung von Erinnerungen des Erlebten je nach Adressaten verschiedenartig ausfallen kann.

Bevor ich Ihnen das Gesagte näher erläutern werde, möchte ich das Forschungsprojekt, an dem ich mitgearbeitet habe und auf das sich meine nachfolgenden Ausführungen teilwei-se stützen, kurz vorstellen.

Unter der Leitung meines vor zwei Jahren verstorbenen Mannes Georg Weber hat ein Team von Sozial- und Literaturwissenschaftlern an der Universität Münster vor 28 Jahren begonnen, die Geschehnisse um die Deportation der Siebenbürger Sachsen zu erforschen; vor nahezu 20 Jahren wurden die Ergebnisse in drei Bänden unter dem Titel „Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949“ publiziert. Grundlagen dafür waren u.a.:

- Dokumente aus 17 verschiedenen Archiven, darunter London, Washington, Bukarest, Hermannstadt, Koblenz, Bern, Stockholm;
- 15 Tagebücher, 200 Briefe, die in der Sowjetunion oder dorthin geschrieben wurden, Gedichte und Zeichnungen
- rund 100 Berichte von ehemaligen Deportierten aus den 1950er Jahren;
- etwa 150 Berichte, die auf unsere Aufforderung zwischen 1988 und 1992 verfasst wurden,
- 20 im Zusammenhang dieses Forschungsprojektes 1989 und 1990 geführte narrative Interviews mit ehemaligen Deportierten und weitere 17 Gesprächsaufzeichnungen.
- veröffentlichte autobiografische Erzählungen;
- schließlich eine zwischen 1988 und 1991 durchgeführte Totalerhebung der Deportierten aus allen siebenbürgischen Orten mit mindestens 50 deutschen Einwohnern im Jahre 1944.

Während im dritten Band Archivalien, Tagebücher, Briefe, Berichte, Gedichte, Erzählungen und Bilder in Auswahl dokumentiert sind, widmet sich der zweite Band unter dem Titel „Die Deportation als biografisches Ereignis und literarisches Thema“ der Analyse von narrativ-biografischen Interviews sowie einigen veröffentlichten literarischen Texten.

Der erste Band schließlich geht unter dem Titel „Die Deportation als historisches Geschehen“ mannigfaltigen Fragestellungen nach. Die Deportation der Siebenbürger Sachsen war kein singuläres Geschehen: Nahezu gleichzeitig oder wenig später wurden auch aus anderen Teilen Südost- und Osteuropas Deutsche in die Sowjetunion deportiert. All diesen Deportationen von Deutschen in die Sowjetunion gingen solche von Fremd- und Zwangsarbeitern aus Polen, der Sowjetunion und anderen Ländern nach Deutschland, ins Dritte Reich voraus – rund fünf Millionen, wie im amtlichen Text des Internationalen Militärgerichtshofes Nürnberg zu lesen ist! Dieser Tatsache haben wir bewusst Rechnung getragen; denn sie gehört zur ganzen Wirklichkeit dieser Zeit. Den unterschiedlichen Aspekten der Deportation von Deutschen in die Sowjetunion ist eine kurze Darstellung der Deportationen in die umgekehrte Richtung vorangestellt. Welche Absicht die Siebenbürger Sachsen mit ihrer Anlehnung an das nationalsozialistische Deutsch-land verfolgten, nämlich ihre Identität als ethnische Gruppe zu wahren, wird in einem eigenen Kapitel analysiert. Es folgen Rekonstruktionen des Deportationsgeschehens auf mehreren Ebenen:

- auf der politisch-diplomatischen Ebene,
- im Spiegel von Zahlen,
- im Spiegel von Erinnerungen,
- im Spiegel von Rückführungsbemühungen.
Ich wende mich nun meiner eigentlichen Aufgabe zu, Ihnen zu verdeutlichen, wie wir mit Hilfe von Aufzeichnungen und Berichten unterschiedlicher Art das Leben der Deportierten rekonstruiert haben. An zwei Beispielen möchte ich Ihnen das zeigen:
- das Lager
- das Essen und der Hunger.
Dass ein großer Teil der Lager in dem heute umkämpften Gebiet der Ostukraine lag, sei nur am Rande erwähnt.

Das Lager

Nach der zweiwöchigen Fahrt hielten die meisten Güterzüge in der östlichen ukrainischen Sowjetrepublik – die Transporte in den südlichen Ural dauerten sechs Wochen. Die Reisenden kamen auf einem großen, meist zerstörten Bahnhof an oder irgendwo an einem kleinen Haltepunkt in der Steppe. Die seit Wochen auf engstem Raum Eingesperrten waren froh, sich die Beine vertreten, frische Luft schnappen zu können. Eine umständliche Prozedur begann: abzählen, Namen verlesen, aufstellen in Viererreihen. Das Gepäck wurde auf LKWs verladen oder an Stricken befestigt und über den Schnee gezogen. Schließlich setzte sich eine lange Kolonne in Bewegung, begleitet von Wachen und neugierigen, misstrauischen Blicken.

Nach einem Marsch von einigen Kilometern erreichte die Kolonne eines von rund 80 Lagern, in denen die 30.336 Siebenbürger Sachsen untergebracht waren: ein von Stacheldraht umzäuntes, durch Wachtürme gesichertes Gelände mit meist mehreren Gebäuden. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Unterkünfte vom Krieg stark beschädigt. In den Räumen lag Schutt, die Fenster waren weitgehend zugemauert, die Türen fehlten oder schlossen nicht, häufig war auch das Dach defekt. Außer einem ungeheizten Ofen standen meist Holzpritschen oder Eisengestelle mit feuchten Latten in den Räumen, oft mit Schnee bedeckt. Gruppenweise – getrennt nach Frauen und Männern – wurden den Neuankömmlingen ihre Behausungen zugewiesen. Erschöpft sanken sie auf ihr Gepäck.

Wie sah das Lager aus?

Das Lager Petrovka lag auf dem flachen Land südwestlich von Stalino, dem heutigen Donezk, in der Nähe einer großen Schachtanlage. Anders als in manchen anderen Lagern handelte es sich bei den Unterkünften durchweg um Baracken. Insgesamt 14 Baracken umfasste das Lager; neun davon dienten als Unterkünfte für je rund 200 Personen. Es dürften etwa sieben große Räume in jedem Gebäude gewesen sein, denn laut mehreren Aussagen mussten sich ca. 30 Internierte einen Raum teilen. Dreistöckige Pritschen dienten als Schlafstellen.

Ein gemauerter Herd, ein kleiner Tisch, ein Wasserkübel und eine Waschschüssel vervollständigten die Einrichtung, In den übrigen fünf Baracken waren zwei Küchen – je eine für die Offiziere und für die Internierten –, das Bad, das Krankenrevier und der „Klub“ untergebracht; letzterer dürfte auch als Essraum gedient haben. Auf dem Gelände gab es außerdem eine Latrine und einen Brunnen, von dem sich alle das Waschwasser holen mussten.

Was die Belegung der Räume betrifft, hat es laut unseren Berichten größere Abweichungen von dem genannten Beispiel nicht gegeben. Eine vorgegebene Norm von 2 Quadratmeter Bodenfläche für einen Internierten (analog zu den Kriegsgefangenenlagern) wurde nirgends erreicht. Lediglich in Makeevka waren vier Personen in einem 9-Quadratmeter-Raum untergebracht. Wenn später diese Zimmer nur von einer einzigen Person bewohnt waren, z. B. dem Dolmetscher, ist das als ein deutliches Zeichen von Privilegierung anzusehen. Die Überbelegung erklärt sich ebenso wie die bereits erwähnte Tatsache, dass die Lager bei der Ankunft der Internierten weitgehend unbewohnbar waren, u. a. aus den Zerstörungen infolge der Kriegsereignisse im Donezk-Becken.

Deshalb bestand die erste Beschäftigung der Neuankömmlinge in Aufräumarbeiten: Die Quartiere waren von Schutt zu reinigen. Soweit Material vorhanden war, wurden Fensterscheiben eingesetzt, falls nicht, mussten Holzbretter zur Abdichtung herhalten. Öfen wurden beheizbar gemacht, Latrinen ausgehoben und Pritschen gebaut. Selbst Stacheldrahtzaun und Wachtürme wurden teilweise von den Internierten errichtet. Das Ganze vollzog sich bei Temperaturen „zwischen 20 und 30 Grad minus“, tiefgefrorenem Boden und mit Hilfe einfachster Werkzeuge; denn auch der Maschinenpark war weitgehend unbrauchbar. Das für den Pritschenbau benötigte Holz wurde z. B. in Petrovka von Frauen auf einem Schlitten aus dem nahegelegenen Sägewerk geholt. Je nach Zustand des Lagers dauerte es bis zu zwei Wochen, bis das Leben einen geregelten Gang nehmen konnte. Wenn spezielle Gebäude neu errichtet, z. B. ein Badehaus, oder Umbauten vorgenommen werden mussten, z. B. für die Einrichtung des Lagerkrankenhauses, vergingen Monate.

Die erste Zeit lagen die Internierten fast ausnahmslos auf den blanken Brettern. Sie breiteten ihre Kleidung darauf aus und deckten sich mit mitgebrachten Decken oder Mänteln zu. Erst im Laufe des Jahres erhielten sie leere Strohsäcke und den Befehl, zu einem Kolchos zu marschieren und sich diese dort zu füllen. Am 10. Mai 1945 notierte Inge von Hannenheim in ihr Tagebuch:

„Eine große Überraschung im Lager: Wir haben Strohsäcke bekommen! Man schläft doch wesentlich besser als auf den Brettern.“
Später gab es Kopfkissen, Decken und gelegentlich auch Bettlaken, die allerdings meist nur als Vorzeigeobjekte, z. B. bei Kontrollen, jedoch selten ihrem Zweck entsprechend benutzt werden durften.


Renate Weber-Schlenther, geboren 1937 in Weißenfels/Saale (Deutschland), nach dem Abitur Flucht in die Bundesrepublik (1956), Studium evangelische Theologie in Göttingen, Heidelberg, Münster, Zweitstudium Soziologie und Erziehungswissenschaft in Münster.  

Dieser Vortrag wurde im Rahmen der Konferenz  „Die Deportation im kollektiven und individuellen Gedächtnis“ in Hermannstadt gehalten; Veranstalter waren die Deutsche Gesellschaft e.V. (Berlin), das DFRD und die Ev. Kirchengemeinde A.B. Hermannstadt.