WORT ZUM SONNTAG: 1907

Pfarrer Hans-Georg Junesch, Hermannstadt

Am 21. Februar vor genau hundertundzehn Jahren brach im damaligen Rumänien der Große Bauernaufstand aus. Er umfasste drei Monate lang das ganze Land. Korrupte Staatsbedienstete hatten die Bodenreformen der vergangenen vierzig Jahre untergraben. Das junge Königreich hatte sozialpolitisch keine großen Veränderungen bewirken können. Großgrundbesitzer und Kirche behinderten die Entwicklung eines modernen Staates und bevormundeten weiterhin das Volk, dessen Mehrheit verarmt und zur Hälfte Analphabet war.

Rumänien befand sich in einer einmaligen Risikosituation in Europa: Etwa sechzig Prozent der Landbevölkerung (die wiederum etwa neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte) lebte als „Neuleibeigene“ unter dem Existenzminimum. Großgrundbesitzer (0,6 Prozent der Bevölkerung, jedoch im Besitz der Hälfte der Ackerfläche des Landes) und ihre Pächter hatten die fast besitzlosen Bauern in den Ruin getrieben. Für frisches Saatgut und um überhaupt überleben zu können, mussten sie von den Pächtern Jahr für Jahr hoch verzinste Darlehen aufnehmen. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich war die höchste in ganz Europa. Der feudale Großgrundbesitzer-Staat hatte gesiegt. Der Aufstand wurde von der Armee blutig niedergeschlagen und die Lage der Bauern änderte sich nicht wesentlich.

Sie gehörten wohl auch zu den ersten, die vor hundert Jahren als Soldaten die ganz anderen Lebensbedingungen in Siebenbürgen kennen lernten. So wollten sie wohl auch leben. Doch auch die Boden- und andere Reformen in Großrumänien brachten die Regionen des Altreichs kaum vorwärts. Ein wilder Kapitalismus machte sich breit. In den Städten, in die viele Bauern, die die aussichtslose Scholle verlassen hatten, gezogen waren, gab es wenige reiche Industrielle und Händler und ein armes Proletariat. Ein mächtiger politischer Beamtenapparat regierte im eigenen Interesse und hatte kaum die Absicht, mündige Bürger zu bilden. Das vielschichtige Großrumänien war nur teilweise ein moderner Staat geworden. Letztendlich konnte der kapitalistisch angehauchte Klientelstaat mitsamt König das Emporkommen eines neuen Systems nicht verhindern.

Vor siebzig Jahren wurde die Gesellschaft kommunistisch umgekrempelt. Es sollte allen besser gehen. Doch das Land der Bauern wurde enteignet und in staatlichen Großgrundbesitz umgewandelt. Eine Landflucht setzte ein. Viele verließen im Zuge der Industrialisierung den Heimatort, nicht wenige sogar die angestammte Region und zogen in die Hauptstadt oder jenseits der Karpaten. In Großbetrieben des staatlichen Alleinbesitzers wurden sie zu normierten und bevormundeten Produktionsmitteln umerzogen. Der Staatsapparat und die alleinregierende Partei waren allmächtig, und frei denkende Bürger gehörten nicht zu dem erwünschten Konzept. Die Beamten und die Partei-Nomenklatura wirtschafteten schließlich in hohem Maß im eigenen Interesse, so dass auch dieser „volkseigene“ Staat in seiner selbst verschuldeten Abschottung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch kollabierte. Vierzig Jahre lang dauerte die Wüstenwanderung. Viele menschliche Grundwerte wurden in dieser Zeit zerstört, auf lange Sicht, wie sich zeigen sollte.

Als dann die Wende kam, traf die neue Freiheit auf eher unmündige Bürger. Wenige erkannten und lehnten sich dagegen auf, dass die neuen Machthaber eigentlich die alten waren. Diesen ging es in erster Linie darum, in einem neuen System ihre politische und wirtschaftliche Macht zu wahren und zu mehren, und weniger darum, zum Wohl der Allgemeinheit zu wirken. Eine Art Manchester-Kapitalismus etablierte sich. Eine Mehrheit der Bevölkerung versank in Armut und verlor die positive Perspektive. Viele, die es besser haben wollten, verließen daraufhin ihr Heimatland und überließen es neuen Großbesitzern, die heute die Politik im eigenen Interesse gestalten. Die Zurückgebliebenen haben sich mit der Situation abgefunden und ihr Leben arrangiert; doch nicht alle. Viele konnten sich nicht arrangieren und leben unter der Armutsgrenze. Viele können es andererseits nicht weiter akzeptieren, bevormundet zu werden. Wird auch dieser Staat seinen Bürgern gegenüber versagen, fragen wir uns nach bald dreißig Jahren experimenteller Transition?

Die Sorgen sind groß, auch angesichts der globalen Entwicklung. Die Spannungen zwischen Arm und Reich haben schon den kritischen Zustand erreicht. Die einen schotten sich vor den sie bedrängenden anderen ab. Wohin gehören wir, im heutigen Rumänien, mitsamt seinen Bündnissen? Einerseits zu den privilegierten Abgeschotteten, was lange angestrebt wurde. Andererseits verkörpert unser Land weiterhin viele Facetten einer Risikogesellschaft. Das größte Risiko besteht wohl darin, gesunde, beständige Grundwerte, die Hoffnung geben können, weiterhin zu wenig zu beachten. Vielerlei und vielfältige Ablenkungsmanöver setzen der zart ausgebildeten Mündigkeit vieler Bürger sehr zu. Doch die junge Generation, vertraut auf die Grundwerte der Freiheit, hat selbstverantwortlich die Entscheidung für eine gerechtere Gesellschaft getroffen. Auf diese Entscheidung kommt es an.

Jesus Christus spricht: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und verlierst dich an vielerlei, aber nur eins ist nötig. Maria hat die richtige Wahl getroffen. Sie hat sich für ein Gut entschieden, das ihr niemand wegnehmen kann.“ (Im Kontext bei Lukas 10,38-42)