WORT ZUM SONNTAG: Die versöhnten Gegner

Eine alte Legende berichtet: Als Gott den himmlischen Geistern seine Absicht kundtat, den Menschen zu erschaffen, und sie um ihre Ansicht fragte, trat der Engel der Gerechtigkeit vor und sprach: „Erschaffe ihn nicht, denn er wird ungerecht gegen seine Brüder sein, hart und grausam gegen alle handeln, die schwächer sind als er!“ Danach sprach der Engel des Friedens: „Erschaffe ihn nicht, er wird nur Unfrieden auf Erden stiften und das Blut von seinesgleichen vergießen.“ Der Engel der Wahrheit sprach: „Er wird dein Heiligtum mit Lügen entweihen, auch wenn Du ihn nach Deinem Bild und Gleichnis erschaffst.“ So sprachen sie alle. Da meldete sich der Engel der Barmherzigkeit zu Wort: „Bilde ihn, o Gott, und schaffe ihn nach Deinem Bild. Ich will ihn auf seinem Erdenweg begleiten, will ihn zu Dir heimholen und seine Fehler zum Guten lenken. Ich will auch sein Herz mitleidig machen und zum Erbarmen gegen die Schwächeren neigen. Ich will ihm Deine Barmherzigkeit kundtun, dass er nicht verzweifeln muss, wenn er in Schuld und Sünde gefallen ist. Und so soll der Mensch selbst noch im Fall und Elend Zeuge werden für Deine unergründliche Barmherzigkeit.“ Da erschuf der ewige Gott den Menschen als Denkmal seiner Barmherzigkeit.

Wie kann man Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Die Gerechtigkeit fordert, dass der böse Mensch bestraft werde. Ein römisches Sprichwort lautet: „Fiat iustitia, et pereat mundus!“ Auf Deutsch: Gerechtigkeit muss sein, auch wenn die Welt dabei zugrunde geht! Die Barmherzigkeit will die retten, die gegen die Gerechtigkeit verstoßen haben. Gibt es da einen gangbaren Mittelweg?

Eine Persönlichkeit, die der Stadt New York ihren Stempel aufgedrückt hat, war der Bürgermeister Fiorello Henry La Guardia (1882-1947) . Er gab der Stadt eine neue Verfassung, führte ein vielseitiges Sozialprogramm durch, bekämpfte kräftig die Korruption und setzte sich für die Beseitigung von Elendsvierteln ein. Manchmal schlüpfte er in die Rolle des Richters. – An einem kalten Wintertag führte man einen alten, vor Kälte zitternden Mann vor seinen Richterstuhl. Man hatte ihn ertappt, als er in einem Laden einen Brotlaib stahl. Sein Hunger hatte ihn zu diesem Diebstahl getrieben.

La Guardia war sich bewusst, dass das Gesetz keine Ausnahme duldet. Deshalb verurteilte er den Mann zu einer Geldstrafe von zehn Dollar. Diese Strafe konnte der arme Mann nicht begleichen. Da griff der Bürgermeister in die eigene Tasche und bezahlte den Betrag an Stelle des Angeklagten. Er warf die Zehndollarnote in den Filzhut des Diebes. Danach wandte er sich an die Anwesenden im Gerichtssaal und bestrafte jeden einzelnen von ihnen mit einem Bußgeld von 50 Cent. Seine Begründung lautete, sie seien mitschuldig daran, dass sie in einer Stadt leben, wo ein Mann Brot stehlen muss, um nicht zu verhungern. Die Geldstrafe wurde sofort vom Gerichtsdiener mit dem grauen Filzhut des Angeklagten kassiert und dem Mann übergeben. Dieser traute seinen Augen nicht. Er verließ den Gerichtssaal mit 47 Dollar und 50 Cent.

Wie urteilen und handeln wir, wenn uns Unrecht geschieht? Wir können da hart und herzlos sein. Mit dem Blick auf die Sache verlieren wir leicht die Person aus den Augen und fragen uns nicht, warum sie so gehandelt hat. Würden wir nicht nur Tatsachen der Handlung betrachten, sondern auch die betreffende Person, würden auch wir barmherziger sein.
Hätte Christus von diesem Richter gehört, so hätte er diesen Vorfall in einem Gleichnis verwendet. Er hat es in einer noch viel überzeugenderen Weise getan. Wir alle haben vor Gott Schuld auf uns geladen, eine viel größere Schuld als einen Diebstahl in einem Brotladen. Gott ist gerecht. Er muss uns dafür verurteilen und das mit vollem Recht. Können wir die Schuld bezahlen? Wir können es so wenig wie der alte Brotdieb. Deshalb nahm der Sohn Gottes die Strafe, die wir verdienen, auf sich. Er hat, um unserer Schuld zu sühnen, „sein Blut als Lösegeld für viele“, wie es im Evangelium heißt, gegeben. Durch dieses Sühneopfer floss uns die Barmherzigkeit Gottes zu. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wurden dadurch versöhnte Gegner.