WORT ZUM SONNTAG: Ein Bußgürtel, den wir nötig haben

Der berühmte Philosoph und Mathematiker Pythagoras (570 – 495 v. Chr.) hatte zu Kroton in Süditalien eine wissenschaftliche Schule gegründet. Diese Schule befasste sich mit Religion, Politik, Astronomie und Mathematik. Hier wurden ernste und wissenschaftliche Dinge besprochen. Damit aber dieses Gremium nicht zu einem fruchtlosen Debattierklub ausarte, wurde von jedem Aspirant verlangt, drei Jahre hindurch vollkommenes Stillschweigen zu üben. Erst wenn er diese Probe bestanden hatte, wurde er als Vollmitglied aufgenommen.

Wie nötig wären auch heute solche pythagoräische Schulen mit Stillschweigeübungen. Wir werden durch Radio, Fernsehen und Veranstaltungen mit Wortschwallen übergossen, die den Wasserüberschwemmungen gleichen. Jede Partei nimmt die Worte des eigenen Vertreters kritiklos an und verwirft ebenso kritiklos die Argumente des Gegners, auch wenn sie noch so überzeugend klingen. Wäre nicht ein „tierischer Ernst“ dabei, könnte man sich darüber amüsieren, wie es einst in Holland geschah. Als der japanische Gesandte mit seinem Gefolge an Land ging, machten mehrere Kinder, die dort standen und noch nie Japaner gesehen hatten, dem Gesandten mit beiden Händen eine „lange Nase“. Der Gesandte fragte den holländischen Dolmetscher, was das zu bedeuten habe. Dieser wollte nicht sagen, dass er und sein Gefolge von den Kindern verspottet werde. Er griff zur Notlüge und erklärte: „Hier, in Holland, pflegt man auf solche Weise die Hochachtung zu bezeugen!“ Am nächsten Tag bei der Audienz vor der Königin machte der Gesandte samt seinem Gefolge der Königin ebenfalls eine „lange Nase“. Der Dolmetscher, bleich vor Schrecken, griff wieder zu einer Notlüge. Er sagte zur Königin, in Japan sei diese sonderbare Begrüßung üblich, wenn man jemandem die größte Hochachtung aussprechen will. So machten auch die Königin und ihr Hofstaat eine „lange Nase“.

Das machen doch auch viele unserer Volksvertreter und drehen den Gegnern eine „lange Nase“, nicht aus Unkenntnis wie in Holland, sondern aus Gegnerschaft. Man sucht einander lächerlich zu machen. Viel geistiges Gift wird da unnütz versprüht. Auf viele Redner trifft das lateinische Sprichwort zu: „Si tacuisses, philosophus mansisses – Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben!“ Aber nicht nur die „Großkopfeten“ schwänzen die pythagoräische, zum Schweigen erziehende Schule, das tun auch wir, die „Kleinkarierten“. Wir reden gerne und viel, aber am liebsten über die Sünden, Fehler und Schwächen unserer mehr leidigen als lieben Zeitgenossen. Manche erfinden sogar Sünden, wo noch keine sind. Ein seeleneifriger Pfarrer sprach öfter auf der Straße mit einer schönen Frau, die nicht im besten Rufe stand. Einige „Superfromme“ zeigten ihn deshalb beim Bischof an. Dieser ließ ihn rufen und hielt ihm eine Standpauke. Dann herrschte er ihn an: „Rechtfertigen Sie sich für Ihr Benehmen!“ Der Priester antwortete: „Ich war immer der Meinung, es sei besser, mit einer schönen Frau zu reden und dabei an Gott zu denken, als zu Gott zu beten und dabei an eine schöne Frau zu denken!“ Es war die richtige Antwort.

Viele Leute sind um ihr körperliches Wohlbefinden sehr besorgt. Um sich fit zu halten, laufen manche eine bestimmte Strecke, andere heben Gewichte und wieder andere unterziehen sich einer Fastenkur oder werden sogar Veganer. Ein junger, redseliger Mann kam in ein Kloster und bat einen Mönch um einen Bußgürtel. Er wollte sich in der Askese einüben. Der kluge Mönch erkannte sofort, was nötiger war. Er gab ihm keinen Bußgürtel, sondern machte ihm ein Kreuzzeichen auf den Mund und sprach: „Das ist der beste Bußgürtel, wenn man sorgfältig auf das achtgibt, was durch diese Tür herauskommt!“

Diesen Bußgürtel haben auch wir nötig. Richtig angewandt, verbessert er kräftig die Atmosphäre im Umgang mit unseren Mitmenschen. Eine solch gesunde Atmosphäre tut uns allen gut.

Im Markusevangelium heilte Christus einen Taubstummen. Danach konnte der Mann gut hören und reden. Es wird betont: „Er konnte richtig reden!“ Bitten auch wir Christus, er möge uns von unserer geistigen Taubheit befreien, dass wir hellhörig für das Wort Gottes werden, und unsere Zunge so heilen, dass wir im Umgang mit unseren Mitmenschen immer das „richtige Wort“ finden.