WORT ZUM SONNTAG: Erkenne dich selbst

Zum Leben gehört das Streben. Jeder geistig gesunde Mensch hat ein Ziel vor Augen, das er erstrebt. Natürlich muss er sich dazu die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen. Manchen Menschen sind die Anlagen dazu schon in die Wiege gelegt. Womit sollen wir anfangen? Der berühmte griechische Philosoph und Lehrer Sokrates (470-399 v. Chr.) nennt als Grundbedingung des erfolgreichen Strebens: „Erkenne dich selbst!“ Wir müssen unsere Fähigkeiten, aber auch unsere Grenzen erkennen, um unser Lebensziel richtig bestimmen zu können. Das erschien auch den übrigen alten griechischen Weisen so wichtig, dass über dem Tempel zu Delphi die Inschrift angebracht wurde: „Erkenne dich selbst!“ Der Geisteslehrer Bernhard von Clairvaux (1091-1153) unterstreicht diese alte Erkenntnis: „Du magst alle Geheimnisse kennen, magst die Weite der Erde, die Höhe des Himmels, die Tiefe des Meeres durchforscht haben – kennst du dich selbst nicht, dann bist du wie einer, der einen Bau ausführt ohne Fundament: Du baust dem Einsturz entgegen!“

Das wollen viele Menschen nicht wahrhaben und überschätzen ihre Fähigkeiten. Auch Christus will uns vor der Selbstüberschätzug warnen. Er sagt: „Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten.“

Leider ist bei manchen begabten Menschen die Selbstüberschätzung so groß, dass sich an ihnen ein zweites Sprichwort erfüllt: „Hochmut kommt vor dem Fall!“ Ein überzeugendes Beispiel dafür ist das Schicksal des Franzosenkaisers Napoleon (1769-1822). Er war tatsächlich ein militärisches Genie. Da er aber diese hervorragende Gabe mit einem unbändigen Ehrgeiz verband, musste es zur Katastrophe kommen. Es gibt ein Spottbild aus seiner Zeit. Es zeigt den Lebenslauf des ehrgeizigen Korsen in seinem steilen Aufstieg und in seinem jähen Sturz. Von links sieht man ihn eine Treppe in fünf Stufen emporsteigen. Auf der ersten steht Napoleon als Knabe, auf der zweiten als junger Militärschüler, auf der dritten als Glücksritter in Paris, auf der vierten als General, auf der fünften als Kaiser, und auf dem Höhepunkt des Bildes steht er als Herrscher der Welt. Dann aber geht es auf der rechten Seite des Bildes steil abwärts. Zuerst sieht man ihn beim Abschied aus Spanien, dann auf seiner Flucht aus Russland, dann ruft er als Besiegter in der großen Völkerschlacht bei Leipzig Deutschland sein „Lebewohl“ zu. Danach kommt das bittere Ende als Verbannter auf der Insel Sankt Helena. Unter dem ganzen Bild hat der Maler ein unterirdisches Flammenmeer gemalt und darunter die Worte geschrieben: „Fortdauer nach dem Tode“.

Welch großes Elend hat Napoleons Selbstüberschätzung und sein unbändiger Ehrgeiz über ganz Europa gebracht! Hätte er sein Selbst richtig erkannt und beurteilt, hätte er mit seinen Gaben ein großer Wohltäter werden können. Aber durch seine maßlose Selbstüberschätzung hat er Hunderttausenden das Leben geraubt. Vor der Völkerschlacht zu Leipzig hat er kaltblütig zu Metternich gesagt: „Ein Mensch wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen!“ Viel zu spät erkannte er seine Grenzen.

Noch maßloser in seiner Selbstüberschätzung war der Dichterphilosoph Nietzsche (1844-1900). Sein Ausspruch klingt geradezu paranoisch: „Wenn es einen Gott gibt, wie hielte ich es aus, nicht dieser Gott zu sein!“ Er starb im Irrsinn.
Wie wohltuend ist es, wenn Menschen mit reichen Gaben dennoch ihre Grenzen erkennen. Dazu gehört Mut und Ehrlichkeit. – In einer Gesellschaft feierte man den Feldmarschall Blücher, den Besieger Napoleons. Von seinem anwesenden Stabschef Gneisenau nahm man fast keine Notiz. Da fragte Blücher, ob einer aus der Gesellschaft seinen eigenen Kopf küssen könne. Alle verneinten dies. Blücher sagte: „Ich kann es!“ Er ging zu Gneisenau und küsste ihn auf die Stirn. Gneisenau hatte die erfolgreichen Schlachtpläne entworfen.