WORT ZUM SONNTAG: „...und unseren kranken Nachbarn auch“

Ein ruhiger Abend, ein klarer Sternenhimmel, entspannt nach einem durchaus erholsamen Tag. Und der Halbmond ist hoch am Himmel zu sehen. Nein, liebe Leser, da beschreibe ich nicht meinen alltäglichen Abend in der Großstadt, denn da lärmt es ständig und vom klaren Sternenhimmel ... na ja, da bleibt in der Regel, auch bei wolkenlosen Nächten, wegen der trüben Luft nicht viel zu sehen. Nach einer Auslandsreise mit der Gemeinde gönnen wir, meine Familie und ich, uns für wenige Tage – im Ferienhaus der Kirchengemeinde Bukarest in Techirghiol – einige Urlaubstage.

Doch die wenigen Zeilen für das Wort zum Sonntag will ich trotz Urlaub dennoch schreiben und muss, mit dem Mond vor Augen, an das Abendlied, das Matthias Claudius gedichtet hat, denken: „Der Mond ist aufgegangen“ (EG 435). Auch wenn ich dieses Lied nicht wirklich zu den Lieblingsliedern meiner Kindheit zählen kann, verbinde ich doch damit ganz schöne Erinnerungen. Vor drei Jahren ließen wir beim Kirchentag in Hamburg jeden Tag durch Abend-andachten ausklingen. Es waren Abende, an denen eine große Menschenmenge in das genannte Abendlied mit einstimmte. Und das geschah nicht zufällig, denn Matthias Claudius stammt ja aus Hamburg, und das sollte wahrscheinlich durch das ständige Wiederholen des Liedes, ob in Kirchen oder auf öffentlichen Plätzen, auch betont werden. Das Lied, wenigstens die eine, erste Strophe, war auch manchen unserer Jugendlichen, die mich damals in Hamburg begleiteten, aus der Kindheit bekannt. Und das gemeinsame Singen, mitten im Lichtermeer angezündeter Kerzen und unter den leuchtenden Himmelskörpern, das hat sie sehr bewegt.

Das berühmte Lied vom Mond, der aufgegangen ist, will ich mir noch einmal anhören. Gut dass es im Haus auch WLAN gibt, sodass ich mir das Lied im YouTube abspielen lasse und gleichzeitig auch die Liedstrophen mitverfolgen kann. So kann Internet doch ganz hilfreich sein, wenn man gerade kein Gesangbuch neben sich liegen hat. Beim Lesen der Strophen scheint mir, als ob Claudius die ganze Welt vor unseren Augen vorbeiziehen lassen wolle: „Der Wald steht still und schweiget und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.“ Wir dürfen, die Liedstrophen weiter verfolgend, mit Gott so sprechen, mit Worten, die jeder versteht und die ans Herz gehen, als wäre das die einfachste Sache der Welt.
Und dann meint man, das Lied ginge zu Ende und alles sei gesagt. Doch ganz am Schluss, wenn wir schon müde werden und singen: „verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen“, dann werden wir nochmals unerwartet an unseren Nächsten erinnert. Wir wenden unseren Blick auf andere hin, wenn Claudius dichtet: „... und unseren kranken Nachbarn auch.“

Diese fünf Worte, die niemand mehr am Ende dieses  Abendliedes erwartet, die werden für mich auf einmal besonders wichtig. Ich merke: Unsere Welt würde sicher besser sein, wenn für uns alle die Wendung zum Nächsten hin das Letzte an jedem Abend wäre. Hin zum kranken Mann im Wohnblock nebenan, hin zu den hungrigen Kindern, hin zu den flüchtenden Syrern – was weiß ich wohin überall, weltweit, nah oder fern, wo Not, Leid und Trauer herrschen. Dazu, ja auch darüber hinaus, vom Abendgedanken und Gebet hin zum tatkräftigen Einsatz lädt uns der Evangelist Lukas durch den Lehrtext der Tageslosung vom 31. Juli ein, wo es im 14. Kapitel heißt: „Wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein, dann wirst du selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten.“ Wir sind aufgefordert zu handeln, zu denken und zu gedenken.

Wissend, dass diese Gedanken für den 10. Sonntag nach Trinitatis als Geleitworte gelten, will hier auch der Beiname „Israelsonntag“erwähnt werden. Für mich ist dieser Sonntag immer wieder ein Ansporn, an das Volk Israel zu denken: an dessen leidvolle Vergangenheit, aber auch an dessen Gegenwart, an dessen Verhältnis zur christlichen Kirche. Es wird kalt draußen im Hof: Der Meereswind ist frisch und ich ziehe mich ins Zimmer zur Nachtruhe zurück. Und da bemerke ich im ersten Stock ein Bild, das ich bisher völlig übersehen habe. Da ist eine Küste bei Nacht abgebildet und darauf der Text abgedruckt: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.“ Diese Worte aus demselben Abendlied begleiten mich noch eine Weile vor dem Einschlafen.

Nun bin ich wieder an meinem Schreibtisch in Bukarest und versuche zusammenfassend einen Schluss zu finden: Ein von Wohlwollen bestimmtes Bezogensein auf den anderen Menschen, dazu möchte ich heute ermutigen, wissend, dass wir Jesus selbst im leidenden Menschen begegnen können, wie er es im Matthäusevangelium im 25. Kapitel formuliert: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Und so komme ich zurück zu Matthias Claudius, der im Jahr 1799, meinend dass er sterben würde, einen Brief an seinen Sohn Johannes schrieb. Aus der Vielzahl von Ratschlägen erwähne ich nur einen: „... gehe nicht aus der Welt, ohne deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter des Christentums durch irgendetwas Offentliches bezeugt zu haben.“(Zitat aus „Worauf ich hoffe“ von Klaus Möllering, 2004). Befolgen auch wir diesen Rat, und schenken uns gegenseitig etwas mehr Aufmerksamkeit, sogar über Religionen und Kontinente hinweg!