WORT ZUM SONNTAG: Wollen und Sollen

Wir Menschen haben Interessen und wollen sie verwirklichen. Das gelingt leichter, wenn wir uns mit anderen Menschen zusammentun, die die gleichen Interessen haben. So entstehen Vereine, Wirtschaftsunternehmen, politische Parteien und andere Körperschaften. Solange unsere Interessen anderen nicht in die Quere kommen, geht alles friedlich zu. Stoßen gegensätzliche Interessen aufeinander, kommt es zum Kampf. Die stärkere Wirtschaftsmacht schluckt die schwächere. Sind auf politischem Gebiet die gegensätzlichen Interessen so groß, dass es zu keiner Einigung kommt, bricht Krieg aus. Der militärisch Stärkere zwingt den Schwächeren zur Kapitulation. Das ist die äußerste Konsequenz, wenn man die eigenen Interessen mit Gewalt durchsetzen will.

Dürfen wir uns rücksichtslos von den eigenen Interessen leiten lassen? Wollen wir Frieden bewahren, müssen wir mit dem Interessengegner auf einen „Modus Vivendi“ kommen. Die beste Richtschnur für den Interessenausgleich sind die „Zehn Gebote Gottes“. Wenn wir alle uns von ihnen leiten lassen, vermeiden wir Feindschaften und Kriege. Die Gebote Gottes stellen den Interessen die Pflicht entgegen. Aus dem „Interessenmensch“ soll ein „Pflichtmensch“ werden. Nur so kann die Menschengemeinschaft friedlich und gemeinnützig bleiben. Alle verantwortungsbewussten Weisheitslehrer suchen unser Pflichtgefühl zu stärken.

Wohl kein Philosoph hat so genau zwischen Interesse und Pflicht unterschieden wie Kant (1724-1804). Dieser trockene Denker schrieb sogar ein Hohelied auf die Pflicht. Es beginnt: „Pflicht, du erhabener großer Name“. Seine Pflichtenlehre, auf eine kurze Formel gebracht, lautet: „Du kannst, weil du sollst!“ Folgender Ausspruch zeigt ihn als Vorreiter der Pflicht: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir!“

Was sagt Christus dazu? In diesem Interessen-Pflichtkonflikt ist er noch kategorischer als der Denker Kant. Er sagt im Lukasevangelium (17,7-10): „Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Nimm Platz zum Essen? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich. Bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde? So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan!“

Es wirkt immer eindrucksvoll, wenn ein Mensch die Pflicht dem Interesse vorzieht. Der Leibarzt des Kaisers Franz Josef war gestorben. Man empfahl dem Kaiser den jungen tüchtigen Militärarzt Dr. Kerzl als Nachfolger des verstorbenen Arztes. Der Kaiser bestellte ihn, um ihn kennenzulernen, auf einen bestimmten Tag um zehn Uhr zu sich. Die Stunde war längst vorüber und der Arzt war noch nicht erschienen. Der Kaiser bestand bei allen Angestellten am Kaiserhof auf genaue Pünktlichkeit. Der empfohlene Leibarzt traf beim Kaiser mit einer Stunde Verspätung ein. Er wurde vom Kaiser ungnädig empfangen: „Ich habe Sie für zehn Uhr bestellt“, rief ihm der Kaiser zu, „jetzt ist es elf Uhr. Ich habe keine Zeit mehr für Sie!“ Damit war der Arzt entlassen. Dieser blieb aber an der Tür stehen und sagte: „Majestät, ich hatte im Militärspital eine dringende Operation; es ging um ein Menschenleben.“ Überrascht blickte ihn der Kaiser an und fragte: „Wer war der Kranke, dem zuliebe Sie sich verspätet haben?“ „Ein einfacher Soldat vom 73. Infanterieregiment“, war die Antwort. Da schaute der Kaiser diesem pflichttreuen Arzt, der seinen eigenen Aufstieg um dieses Menschenlebens willen aufs Spiel gesetzt hatte, warm ins Auge, schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte: „Gut, Sie werden mein Leibarzt!“

Die menschliche Gesellschaft hat solche Menschen notwendig, die ihre Pflicht dem Interesse vorziehen. Aber die Pflicht muss eine „geheiligte Pflicht“ sein. KZ-Wächter von Auschwitz, die Häftlinge ermordet hatten, suchten sich vor Gericht mit den Worten zu entschuldigen: „Wir haben nur getan, was uns befohlen wurde. Das war unsere Pflicht!“ Darum ist es notwendig, dass die Zehn Gebote Gottes als Richtschnur für die Pflichterfüllung anerkannt werden. Die sittliche Pflicht ist nur dann eine Königin mit voller, unumschränkter Macht, wenn sie eine Königin von Gottes Gnaden ist.