WORT ZUM SONNTAG: Zeit des Fastens

Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!
Sie suchen mich täglich und begehren, meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.
„Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst’s nicht wissen?“ – Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.
Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat?
Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
(Jesaja 58,1 – 9)

Seit ältesten Zeiten praktizierte der Mensch das Fasten als Vorbereitung zu besonderen religiösen Anlässen. Wenn man ein Heiligtum betreten wollte, um das Wohlwollen der Gottheit bzw. die Unterstützung derselben begehrte, war es üblich, zu fasten. Mose fastete auf dem Sinai bevor er vor Gott trat, um die 10 Gebote zu empfangen. Die Propheten des Alten Testaments rufen angesichts schwerer Zeiten zum Fasten auf. Johannes der Täufer gestaltet sein ganzes Leben asketisch. Von Jesus erfahren wir, dass er in der Wüste zu Beginn seines öffentlichen Auftritts fastete. Der Apostel Paulus fastet zu bestimmten Anlässen, und die Kirchenväter haben es getan.  In der katholischen, vor allem aber in der orthodoxen Schwesterkirche ist Fasten ein sehr wesentlicher Teil der Frömmigkeitspraxis und hat vor allem in dem Klosterleben eine besondere Ausprägung erfahren. Vielerorts wird das Fasten auch heute noch als Mittel dafür angesehen, unheilvolle Kräfte von sich selbst oder von nahestehenden Menschen fernzuhalten. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Gedanke – dass das Fasten Gottes Unmittelbarkeit schafft – durch die Religionen.

Beim Fasten steht immer auch der Gedanke dahinter, dass irgendwie Einfluss auf Gottes Entscheidung genommen werden könne. Selbstverständlich haben das auch jene Menschen geglaubt, die der Prophet Jesaja im Blick hatte. Gerade dies ist der Grund, warum sie von dem Propheten hart in die Mangel genommen wurden. Ja, sie fasten, und man kann davon ausgehen, dass sie es richtig tun. Ihre Ernsthaftigkeit wird mitnichten bestritten:  Sie gehen – wie es zum geflügelten Wort geworden ist – „in Sack und Asche“. Aber trotzdem stimmt etwas nicht. Genau diese Gottesunmittelbarkeit, welche durchs Fasten angeblich erreicht werden soll, stellt sich nicht ein. Diese Leute sind der Meinung, alles richtig getan zu haben und trotzdem nähert sich Gott ihnen NICHT. Sie fragen sich allen Ernstes: „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst’s nicht wissen?“ Denen, die so fragen, wird ein grober Fehler unterstellt, nämlich religiöser Hochmut. Diese Menschen meinen, dass sie durch ihr Fasten schon das Nötige geleistet haben, dass sie damit schon der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan haben. Sie meinen, dass – so ähnlich wie in einem Vertrag – wenn sie ihren Teil erfüllt haben, nun Gott seinen einhalten soll. Das einfache Schema „do ut des“ („Ich gebe damit du gibst“) zieht hier aber nicht.

Die Sehnsucht dieser Menschen nach Gottes Nähe wird wohl nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr die Fastenpraxis, die sich allein auf den Verzicht auf etwas beschränkt und im Gegenzug dazu gleich eine Gegenleistung erwartet. Der Prophet Jesaja zeigt uns, wie Fasten missverstanden werden kann und will aufklären. Im  alttestamentlichen Text wird versucht, einen Bezug zwischen religiösem Ernst und dem  konkreten Alltag in dieser Welt herzustellen: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst … Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn …“  Wie aktuell: Der Mitmensch soll nicht aus den Augen verloren werden. Ein ganzheitliches Bild wird den Menschen damals, aber auch uns vor Augen gehalten. Religiöser Ernst allein im Sinne von Erfüllung einer gewissen Fasten-, Gebets-, oder Gottesdienstpraxis, reicht nicht aus. Dieser Ernst muss sich im konkreten Verhalten des Alltags wiederfinden; er muss ethische Relevanz gewinnen. Aber selbst wenn das geschieht – und das muss uns wohl bewusst sein –, kann man damit Gottes Unmittelbarkeit nicht erzwingen. Gott wirkt eben wann, wo und wie ER es für angebracht hält.

Es frappiert, wie sehr dieser Text aus dem Alten Testament eigentlich schon die reformatorische Rechtfertigungslehre vorwegnimmt. Die Grundeinsicht ist jene, dass mit religiösen Opfern keine Gerechtigkeit unter den Menschen geschaffen werden kann, geschweige denn vor Gott. Fasten ist zwar – wie Luther schon sagte – eine „gute geistliche Zucht“. Wenn man aber meint, damit schon den Willen Gottes erfüllt zu haben, irrt man. Fasten heißt zwar, dass man auf etwas verzichtet. Aber nicht allein darin hat diese Zeit ihren Sinn. Unser ganzes Leben – nicht nur die körperlichen Bedürfnisse – sollen wir unter die Lupe nehmen. Wenn wir uns diese oder jene Enthaltsamkeit vornehmen, dann keineswegs darum, um irgendjemanden und schon gar nicht Gott damit zu beeindrucken. Wenn wir es tun, tun wir es für uns selber. Wenn wir es tun, dann nicht als Aktion, sondern als Reaktion. Nicht wir stimmen Gott durch unsere Taten milde, sondern mit unseren Taten danken wir Gott für seine große Tat, nämlich unsere Erlösung.

Der folgende Sonntag „Estomihi“ („Sei mir ein starker Fels“) steht ganz im Zeichen der Vorbereitung auf die kommenden Wochen. In erster Linie will dieser letzte Sonntag der Vorfastenzeit und vor allem die darauf folgende Woche mit dem Aschermittwoch die Christen auf den zum Kreuz gehenden Sohn Gottes einstimmen. Das Meditieren über den Leiden Christi, also das, was wir in den nächsten sieben Wochen zu tun gerufen sind, fordert uns dazu heraus, den Mühen und Verpflichtungen des Alltags zumindest für eine Zeit nicht den ersten Platz einzuräumen. Es geht natürlich auch darum, sich – soweit dies möglich ist – von weltlichen Begierden und alten Sünden zu distanzieren und mehr Aufmerksamkeit für das Göttliche aufzubringen. Es gilt aber im Hinterkopf zu behalten, dass das Wichtigste, ja das Entscheidende, nämlich unser Seelenheil, Gott schon längst für uns geschaffen hat. Dafür dürfen wir dankbar sein.