Zeugin zweier Diktaturen

Julijana Zarchi überlebte Ghetto und Zwangsarbeit

Julijana Zarchi sprach über ihre Familiengeschichte im Rahmen der Internationalen Begegnung des Maximilian-Kolbe-Werks e.V. in Oswiecim, Polen (Januar 2013). Foto: Christine Chiriac

Gerda und Julijana Zarchi in Tadschikistan.

Gerda Zarchi, als sie noch in Düsseldorf lebte.

Julijana als Kind mit ihrem Vater, Moses Zarchi.
Fotos: privat

„Das erste Bild, an das ich mich erinnern kann, ist der Stacheldraht mit einer undichten Stelle, auf der anderen Seite meine Mutter. Ich höre hinter mir: ‘Lauf!’ Ich laufe so schnell ich kann. Jemand auf der anderen Seite des Stacheldrahts, ein Helfer, hat einen Ball mitgebracht – damit wir so tun können, als sei ich hinter dem Ball hergelaufen und deshalb aus dem Areal des Ghettos entkommen.“ Julijana Zarchi (74) erzählt ruhig und souverän. Sie blickt dabei freundlich-konzentriert in die Augen ihrer Zuhörer. Ihre Biografie ist vielschichtig, ihre Erinnerungen verflochten, die Familiengeschichte eng verbunden mit den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts.

Julijanas Vater, Moses Zarchi, kam aus Ukmerge, Litauen, aus einer jüdisch-orthodoxen Familie. Er studierte Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaft in Deutschland und promovierte in der Schweiz. Arbeit fand er in Düsseldorf, wo er seine zukünftige Frau, Gerda Urchs, eine deutsche Katholikin, kennenlernte. Mitte der dreißiger Jahre war jedoch die Eheschließung zwischen einer „Arierin“ und einem Juden bereits verboten, also ging das Paar in die damalige litauische Hauptstadt Kaunas und heiratete in der Synagoge. „Eine standesamtliche Trauung gab es damals in Litauen noch nicht. Meine Mutter wurde Jüdin und bekam die litauische Staatsbürgerschaft ihres Mannes – in einer Zeit, wo andere sich scheiden ließen, um sich zu retten“, erzählt Julijana Zarchi.

Die jungen Eheleute durften als Litauer noch bis 1937 im Reich bleiben, wurden dann aber ausgewiesen und kehrten nach Litauen zurück, wo ein Jahr später Julijana auf die Welt kam. Moses Zarchi fand Arbeit in den Redaktionen zweier jiddischsprachiger Zeitungen. „An dem Sonntag im Juni 1941, als der Krieg mit der Sowjetunion ausbrach - und somit das Schicksal der litauischen Juden feststand -– rief mein Vater aus der Redaktion an und sagte meiner Mutter, er würde mit den Kollegen ostwärts fliehen. Er war sich sicher, dass die Deutschen meiner Mutter und meiner Großmutter -– die auch Deutsche waren – nichts Böses antun würden. Das war das Letzte, was meine Mutter von ihm gehört hat.“

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurden alle Juden ins Ghetto umgesiedelt, und Gerda Zarchi entschloss sich, die dreijährige Julijana der Familie eines dortigen Nachbarn anzuvertrauen. Sie hatte große Angst vor den grauenerregenden Pogromen, die in den Straßen von Kaunas wüteten. Juden wurden ganz einfach aus den Häusern gezerrt und ermordet.

„Meine Mutter hat später nie darüber sprechen können, über diese Schreckenszeit, die sie durchmachen musste“, sagt Julijana Zarchi. „Das Ghetto war aber auch kein ‘ruhiger Zufluchtsort hinter Gittern’. Man merkte sofort, was einen erwartete. Unserem Nachbarn, Franz Wozelko, gelang es trotzdem, mich aus dem Ghetto zu retten – mich, und viele andere Menschen, für die er sein Leben riskierte. Allgemein brauchte ein Jude viele Helfer außerhalb des Ghettos, um überhaupt fliehen zu können, denn man musste dauernd umversteckt werden. Auch Denunzianten gab es zur Genüge, die es nicht vertragen konnten, wenn ein jüdisches Kind noch am Leben blieb.“

Die kleine Julijana überlebte im Versteck. Gerda Zarchi schloss sich in Kaunas einer Gruppe von Frauen an, die sich gemeinsam mit der deutschen Künstlerin Helene Holzman im Widerstand gegen die Nazis engagierten und sich bemühten, möglichst viele gefährdete Kinder aus dem Ghetto zu retten. Später sollte Helene Holzman eine Chronistin dieser Jahre werden, indem sie ihre Erinnerungen aufzeichnete. (Ihr Buch: „Dies Kind soll leben: die Aufzeichnungen der Helene Holzman, 1941-1944“, herausgegeben von Reinhard Kaiser und Margarete Holzman, Frankfurt am Main, Schöffling & Co., 2000, 384 Seiten. Broschierte Auflage: Verlag List Tb., 2001, 373 Seiten.)

1944 wurde Litauen von den Sowjets befreit. Gerda Zarchi, die sechsjährige Julijana, Helene Holzman mit Tochter Margarete sowie ein aus dem Ghetto gerettetes Mädchen konnten zunächst erleichtert aufatmen. Julijanas Mutter machte sich sogar Hoffnungen, bald wieder in ihrer Heimat Deutschland leben zu dürfen. Doch die  Ruhe täuschte. Denn die Düsseldorferin, die dem jüdischen Ghetto kaum entkommen war, galt jetzt erst recht als Deutsche.

„Am 26. April 1945 fuhren Wagen mit sowjetischen Soldaten vor und holten uns ab. Die Listen waren schon im Februar erstellt worden. Wir wurden zu einer Sammelstelle gebracht, dann in Viehwaggons geladen. Es hieß, wir sollten Aufbauarbeit in der Sowjetunion leisten“, erinnert sich Julijana. „Anfang Mai, am Tag der Kapitulation, dachten wir naiv, dass wir jetzt zurückkehren durften. Aber der Zug fuhr weiter. Bis nach Tadschikistan.“ Erst viel später erfuhren sie, dass ihr diesmal „deutsches“ Schicksal nicht nur für Litauen bestimmt war, sondern gleichzeitig viele deutsche Minderheiten im ehemaligen Ostblock betraf.

„In den Gebirgen und Tälern an der afghanischen Grenze wird eine wertvolle Sorte Baumwolle angebaut, die nur manuell geerntet werden kann. Das war unsere Arbeit. Im Sommer waren Hitze und Feuchtigkeit kaum zu ertragen, wir lebten in einer Lehmhütte, es gab keine Toiletten.“ Gerda Zarchi hatte eine kleine Nähmaschine aus Litauen mitgebracht und schloss sich bald einer Genossenschaft an, um sich und ihre Tochter aus der Kolchose zu entziehen.

Bald stellte sich heraus, dass sie keine gelernte Schneiderin war, und sie musste zur Feldarbeit zurückkehren. Als die kleine Julijana erkrankte, nahm ihre Mutter eine Stelle als Putzfrau im Krankenhaus an, um Zugang zu etwas besserer medizinischer Betreuung zu haben. Sie lernte nach und nach das kyrillische Alphabet, führte Patientenkarteien, half dem Ärztepersonal und wurde mit der Zeit selber als Krankenschwester tätig, obgleich sie keine Ausbildung dazu hatte. Die Lepra, die schwarzen Pocken, die Malaria, der Typhus wüteten, das Personal war überfordert, das Krankenhaus stets überfüllt.

Siebzehn Jahre lang lebten sie in Tadschikistan. Julijana ging dort zur russischen Schule und studierte anschließend Deutsch und Englisch in der Hauptstadt Stalinabad (heute Duschanbe). Sie wäre gerne Ärztin geworden, doch ein Medizinstudium war für Deportierte undenkbar. „Dort war ich plötzlich die Deutsche, die Faschistin. Als Schülerin wurde ich oft angefeindet“, erinnert sich Frau Zarchi. „Doch die Deutschen waren nicht die einzigen, die unter der Diskriminierung zu leiden hatten. Obwohl das allgemeine Motto ‘die Verbrüderung aller Völker’ war, wurden die Tadschiken, die als Perser ihre eigene sehr alte Kultur haben, von den Sowjets unterdrückt. Man nannte sie ‘Esel’. Das war bei den Sowjets ein Synonym für ‘Einheimische’.“

Nach der Rehabilitation der Deportierten im Jahre 1962 kehrte Julijana nach Litauen zu Helene und Margarete Holzman zurück. Ihre Mutter folgte ihr ein Jahr später. Ein Ausreisevisum nach Deutschland bekamen sie nicht, obwohl sie immer wieder den Antrag einreichten. Gleich nach der Wende reiste Julijana zum ersten Mal nach Deutschland, doch ihre Mutter war bereits zu schwach und krank, um mitfahren zu können. Sie starb im Jahr 1991 mit großer Sehnsucht nach ihrer Heimat.

Väterlicherseits hat Julijana Zarchi keinen einzigen Verwandten mehr: „Meine Mutter dachte noch lange nach dem Krieg, dass mein Vater noch lebt. Es stellte sich aber heraus, dass er nicht mit den Redaktionskollegen nach Russland geflüchtet, sondern bei seiner Familie im litauischen Ukmerge geblieben war“, sagt Julijana. „Dort lebten mein Großvater, seine Geschwister mit ihren Angehörigen, die zwei Brüder meines Vaters und ihre Familien. Innerhalb von drei Tagen ermordeten die Nazis alle Juden aus Ukmerge.

Es ist sehr genau im Bericht von Karl Jäger, dem Führer des Einsatzkommandos 3 in Litauen, aufgezeichnet. Die täglichen ‘Errungenschaften’ sind peinlich genau notiert, und der Autor des Berichts beklagt sich über die ‘nervenaufreibende Arbeit’, über die Tatsache, dass nicht noch mehr Menschen noch effizienter umgebracht werden konnten.“

Julijana Zarchi unterrichtete nach ihrer Heimkehr in den sechziger Jahren zuerst Englisch an einer russischen Schule, dann Deutsch an einer Landwirtschaftlichen Hochschule –  und nach der Wende am Germanistik-Lehrstuhl der Universität Kaunas. Heute lebt die Dozentin in Kaunas, engagiert sich in der jüdischen Gemeinde, reist oft nach Deutschland, hält Vorträge und Besprechungen mit jungen Menschen als Zeitzeugin zweier Diktaturen.

Die Frage nach ihrer Identität beantwortet sie lächelnd. „Mein Schicksal ist jüdisch, doch leider habe ich von meinem Vater die jüdische Kultur nicht kennenlernen können. In der jüdischen Gemeinde werde ich manchmal aus Spaß „die Daitschke“ genannt. Geprägt wurde ich tatsächlich von meiner deutschen Mutter, die sich in der Fremde nach ihrer Heimat sehnte. Siebzehn Jahre verbrachte ich in Tadschikistan, wo ich Russisch sprach und auf Russisch studierte. Meine Muttersprache ist Deutsch, jahrelang habe ich Deutsch unterrichtet. Heute lebe ich in Litauen, wo ich viele Freunde habe. Wurzeln habe ich nirgends – vielleicht nur Würzelchen. Nun, wer bin ich?“