Zum Beginn von Rumäniens EU-Ratspräsidentschaft

Ein Brief an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker

Demonstration am Bukarester Victoriei-Platz im Mai 2018
Archivfoto: Agerpres

Dieser Text wurde im Auftrag des Bayerischen Rundfunks München verfasst. Zum Jahreswechsel hat Rumänien erstmals die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Zu diesem Anlass hatte die Sendung „Dossier Politik“, die am 16. Januar vom Radiosender „Bayern 2“ ausgestrahlt wurde, das Thema „Sorgenkind übernimmt Führungsrolle – Schafft Rumänien den EU-Vorsitz?“. Die Kollegen aus Deutschland haben mich gebeten, einen Brief an EU- Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu schreiben. Der Brief wurde in der Sendung vom 16. Januar vorgelesen. Die Sendung kann auf www.br.de nachgehört werden.

Lieber Herr Juncker,

Sie haben die Botschaft auf dem Plakat sicher gesehen, als Sie an einem verschneiten Januarabend in Ihrer Limousine zum Bukarester Konzerthaus Athenäum fuhren, wo die Festlichkeiten zum Beginn von Rumäniens EU-Ratspräsidentschaft stattfanden. „Wir brauchen Europa, keine Diktatur“, stand auf dem Plakat.
Es sind junge Leute wie ich, die an diesem verschneiten Januarabend in Bukarest auf die Straße gingen.

Es war ebenfalls ein Wintertag in Bukarest, vor fast 30 Jahren, als zwei junge Männer mit Wollmütze ein Plakat hochhielten. „Unsere Kinder werden frei sein“, stand mit großen Buchstaben darauf. Das Schwarzweißfoto, das die beiden während der Revolution im Dezember 1989 zeigt, wird jedes Jahr Tausende Male auf Facebook geteilt.
Wenn sie nur gewusst hätten, dass ihre Kinder auch auf die Straße gehen werden, um für diese Freiheit zu kämpfen…

Mit dem EU-Beitritt im Jahr 2007 haben wir das Recht gewonnen, anderswo zu leben und zu arbeiten, anderswo frei zu sein. Laut einem UNO-Bericht haben sich zwischen 2007 und 2015 über 3,4 Millionen Rumänen entschlossen, das Land zu verlassen. Somit befindet sich Rumänien weltweit auf Platz zwei, nach Syrien, was die Auswanderungsquote betrifft.
Mit dem Weggehen der Anderen bin ich aufgewachsen. Es gehört zu meinem Alltag, so wie die Luft, die ich einatme. Die Hälfte meiner Familie war schon aus Rumänien weg, als ich geboren wurde. Meine Verwandten lernte ich auf Farbfotos kennen.

Ich war zehn Jahre alt, als ich erfuhr, dass meine beste Freundin mit ihren Eltern nach Kanada auswandern wird. Es war der erste große Verlust, den ich gespürt habe.
Danach kam sie immer wieder, die Nachricht, dass Freunde oder Bekannte wegziehen. Jeden Monat. Jede Woche. Jeden Tag. Ab einem Punkt schmerzt es nicht mehr, man ist abgehärtet. Und dann kommt ein Gedanke, wie ein Schatten: Wenn alle das Land verlassen, dann ist man fremd im eigenen Land. Ist man dann noch zu Hause?

Dass es anderswo besser ist, damit bin ich auch aufgewachsen. Das „Anderswo“, das war Westeuropa. Das „Anderswo“ roch nach Seife, so wie die Pakete rochen, die regelmäßig von unseren Verwandten aus Deutschland kamen.
Ich war acht Jahre alt, als der Kommunismus stürzte. Gleich danach war ich zum ersten Mal in meinem Leben „anderswo“. Westeuropa schien mir wie ein Schlaraffenland, ich habe Pommes mit Ketchup gegessen, bis mir schlecht wurde.

Als ich zurückkehrte, sagte ich zu meinen Eltern, dass unser Wohnblockviertel eine riesige Mülltonne sei.
Seitdem war ich in vielen Ländern. Doch ich wollte nie aus Rumänien weg. Ein gewisses Etwas, das man nicht mit Worten beschreiben kann, hielt mich immer zurück. Hält mich auch heute noch zurück.

„She is still in Romania“, sagte ein rumänischer Künstlerkollege, der inzwischen in Berlin lebt, über mich, als wir im September 2018 unsere Arbeit in Rom vorstellten. Als ob es eine Schande wäre, im Land geblieben zu sein.
Ich bin stolz, Rumänin zu sein, und trotzdem passiert es in letzter Zeit immer öfter:
Wenn mich jemand im Ausland fragt, woher ich komme, stocke ich. Und auch etwas anderes passiert immer öfter: Ich denke, Leute aus dem Ausland sind besser als ich. Es ist ein Minderwertigkeitskomplex, den wir in unserer DNA tragen.

In Bezug auf die rumänische EU-Ratspräsidentschaft bin ich, ehrlich gesagt, skeptisch. Es ist, als ob der schlechteste Schüler der Klasse auf einmal beauftragt wird, Klassensprecher zu sein.
Auch Sie haben Rumänien kritisiert. Zu Recht. Sie meinten, Sie würden nicht glauben, dass unsere Regierung in vollem Umfang begriffen hat, was die Ratspräsidentschaft bedeutet. Wie kann man die Einheit Europas fördern, wenn man als Land so gespalten ist? Das Rumänien der Regierungspartei PSD entfernt sich immer weiter von Europa. Das Rumänien, in dem ich hoffe zu leben, braucht Europa. Für das Rumänien, in dem ich hoffe zu leben, ist der Ratsvorsitz eine Chance.

Für dieses Rumänien werde ich weiterhin auf die Straße gehen und protestieren, wie die jungen Leute, an denen Sie an einem verschneiten Januarabend vorbeigefahren sind.
Wenn ich jetzt auf der Straße stehen würde, und Sie würden vorbeifahren, dann würde ich ein Plakat hochhalten, auf dem steht: Ich will hier bleiben.