Zwei Kronstädter unter 100 ausgezeichneten Rumänen

Interview mit der Dramatikerin Elise Wilk und dem Künstler George Roșu

Fotos: Alex Gâlmeanu für „Decât o Revistă“

Im vergangenen Jahr, zum Anlass der Jahrhundertfeier des Landes, hat „Decât o revistă“, eine Zeitschrift für narrativen Journalismus, die das zeitgenössische Rumänien durch gut dokumentierte und tiefgründige Essays, Reportagen und Porträts darstellt, hundert Rumänen ausgewählt, die unser Land „morgen und in den kommenden Jahren prägen werden“. Die 100 von DoR ausgewählten Rumänen sind in den vier Nummern der Zeitschrift „Decât o revistă“ (2018) zu finden.Unter ihnen sind auch zwei Kronstädter: die international anerkannte Dramatikerin Elise Wilk (EW), auch Leiterin der „Karpatenrundschau“, und Künstler George Roșu (GR), Honterus-Absolvent, dessen sarkastische Texte und Zeichnungen aktuelle Themen behandeln. Über den Wunsch, dass ihre Werke beim Zuschauer Fragen auslösen und vielleicht eine Auswirkung auf sie haben, sprachen sie mit ADZ-Redakteurin Laura Căpățână Juller.

 

Elise, in deinen Theaterstücken behandelst du wichtige und aktuelle Themen, wie die Auswirkungen der Arbeitsmigration, Mobbing in der Schule, Probleme der LGBT-Gemeinschaft, Familienverhältnisse im postkommunistischen Rumänien, die Frau in der Gesellschaft usw. Deine Stücke sind in zahlreichen rumänischen Städten zu sehen. Wie empfindest du die Tatsache, dass keines in Kronstadt, deiner Heimatstadt, aufgeführt wurde?

EW: Alle Freunde und Bekannten aus Kronstadt stellen mir diese Frage. Sonderbarerweise ist es für mich nicht wichtig, dass meine Stücke in Kronstadt aufgeführt werden. Obwohl es meine Heimatstadt ist. Leider lässt die Qualität des Kronstädter Theaters viel zu wünschen übrig. In Städten wie Piatra Neamț, Râmnicu Vâlcea, Galați oder Târgu Jiu – um nur einige Beispiele zu nennen – die viel kleiner und unbedeutender sind als Kronstadt, wird viel mehr in dieser Hinsicht getan. Hier gibt es Manager, die wirklich eine Strategie und eine Vision haben, und es entstehen Produktionen, die auf nationaler Ebene wirklich etwas zu sagen haben und die etwas voranbringen.

In Kronstadt ist das Theater irgendwo in den 80er Jahren steckengeblieben. Kein einziger rumänischer zeitgenössischer Autor wird hier aufgeführt. Es gibt keine Strategie, keine richtige Öffentlichkeitsarbeit, keine Versuche, sich dem Publikum anzunähern. Warum sollte sich ein Autor wünschen, unter diesen Bedingungen aufgeführt zu werden?


George, wöchentlich postest du mehrere Zeichnungen mit (manchmal) bitterbösen Kommentaren auf deine Facebookseite, die mehr als 10.000 Anhänger zählt, hast Ausstellungen in zahlreichen Städten des Landes, arbeitest mit wichtigen Großunternehmen, Verlagen, Zeitschriften und Kulturportalen zusammen. Warum bist du aus Kronstadt weggezogen?

GR: Diese Frage lässt mich immer als Hater (Hasser) erscheinen. Weil es Klausenburg gibt. Kronstadt ist eine schöne, reine und tote Stadt, aber mit Ansprüchen einer europäischen Kulturhauptstadt. Erinnert ihr euch an die Kampagne Kronstadt – Europäische Kulturhauptstadt 2021? Besser nicht. Nach rund 15 Jahren (um nicht 20 zu sagen) Versuchen im kulturellen Bereich hat Kronstadt immer noch keine eigenständige Kunstgalerie, kein gutes Theater in Deutsch oder Ungarisch oder zumindest ein gutes Theater in rumänischer Sprache.

Die Initiativen im privaten Sektor waren bis vor Kurzem mittelmäßig, wenn nicht sogar schlecht. Erst jetzt sind zwei gute kulturelle Zentren erschienen. Vielleicht zwei Festivals, einige wiederkehrende Ereignisse und eine neue Räumlichkeit. Vor einigen Jahren wurde eine Bar als bestes Kulturzentrum ausgezeichnet. Es ist eine Bar, die ganz in Ordnung ist, doch trotzdem eine Bar. Kurzgefasst: Kronstadt kommt mit absolut keinen Vorschlägen im Kulturbereich, hat aber die Ansprüche es zu tun.

Ich bin weg, mit dem Gedanken, dass nicht jede Stadt eine Kulturlandschaft haben muss. Es gibt auch noch tristere Städte als Kronstadt. Klausenburg ist eng, bescheiden, aber anständig und vor allem lebendig. Leider befindet es sich auch in Rumänien.

Wie sieht, in deinen Augen, Rumänien heutzutage aus? Findest du ein passendes Wort, einen passenden Satz dafür?

EW: „Gespalten“ wäre das Wort. Es ist ein Land der riesigen Kontraste. Wir leben in einer schönen Facebook-Blase, doch die Mehrheit denkt nicht so wie wir.

GR: Das heutige Rumänien ist der Stock aus rumänischem Holz, das den Österreichern schwarz verkauft und dann im Hypermarkt verkauft wird, um an der in China genähten Trikolore befestigt zu werden, wenn wir „unsere Werte beschützen”.

Wie sieht das Rumänien, in dem du gerne leben würdest, aus?

EW: Leider bin ich im letzten Jahr etwas pessimistisch geworden. Aber trotzdem hoffe ich: Im Rumänien von morgen will niemand mehr ins Ausland ziehen. Das Land hat eine gute Infrastruktur, Züge, auf die man sich verlassen kann, Autobahnen. Und es hat ein gut funktionierendes Gesundheitswesen. Die Menschen werden mit Respekt behandelt.
Das sind alles Sachen, die sich ändern sollten. Und andere Sachen sollten so bleiben, wie sie sind: die Wälder, die malerischen Dörfer, die kleinen Sachen, die Rumänien zu einem einzigartigen Land machen.

GR: Ich wünschte, es wäre schon seit 30 Jahren wie Estland, Island, Portugal, Deutschland. Zumindest im kulturellen und sozialen Bereich. Was die Wirtschaft betrifft, kenne ich mich nicht aus und von Politik will ich überhaupt nichts mehr hören. Ich wünschte, dass es bei der Ankunft am Bahnhof in Bukarest, Temeswar, Klausenburg, oder auch in Kronstadt keinen Dreck gibt, dass es nicht nach Klo riecht, dass der Ausgang, der Eingang, die Gleise, das Informations-Büro etc. gekennzeichnet sind. Ich wünschte, es gäbe Krankenhäuser, in denen man behandelt werden will, funktionale Schulen. Es ist nichts Außergewöhnliches, es sind normale Sachen, die wir uns alle wünschen.

Was ist nötig, um das zu erreichen?

EW: Dass Korruption wirklich tötet, hätte ich vor 2015 nicht gedacht, aber es ist so. Leider gibt es in der Politik fast nur Leute, die ausschließlich ihr eigenes Interesse sehen. Man braucht neue Leute in der Politik, die mit kleinen Schritten etwas voranbringen. Aber es ist schwer.

GR: Keine Ahnung. Vor 20 Jahren hätte meine Antwort gelautet: Arbeit und Anstand. Arbeit gibt es…

Was bedeutet diese Auszeichnung von DoR für dich?

EW: Ich bin auf die Zeitschrift „Decât o Revistă“ schon seit vielen Jahren abonniert. Als ich sie im Jahr 2009 entdeckte, war ich begeistert. Weil ich am Journalismus immer mehr etwas vermisst habe: die gut recherchierte Reportage, für die man vielleicht drei Monate arbeitet.
Als sie mir mitteilten, dass ich unter den 100 Leuten für das Rumänien von morgen bin, war ich sehr überrascht und stolz. Gleichzeitig fühle ich aber eine riesige Verantwortung.
Die 100 Leute, die von der Zeitschrift ausgewählt wurden, kommen aus vielen unterschiedlichen Bereichen. Ich glaube, wenn jeder von uns weiter so macht in seinem Bereich, dann kann man etwas ändern. 

GR: Unter den 100 sind Menschen, die viel angemessener sind als ich, das Rumänien von morgen zu definieren. Ich präge eher das Rumänien von heute. Meine Arbeiten behandeln die Gegenwart. Ich kommentiere die Situationen, Ereignisse von heute Morgen, Situationen, die mich ärgern oder auf irgendeine Weise betreffen. Ich schlage keine Lösungen vor, das ist nicht meine Aufgabe.

George, siehst du die Auszeichnung als Verantwortung?

Nein. Aber ich schätze es, unter Menschen zu sein, die sich aktiv für das Rumänien von morgen einsetzen. Dass ich auch dabei bin, zeigt eigentlich nur, dass die Situation sehr ernst ist, dass es nicht genügend beteiligte Menschen gibt.

Was gefällt dir an Rumänien?

EW: Die Natur, die Berge, dass es immer wunderschöne Orte gibt, die ich noch nicht entdeckt habe. Dass die nette alte Frau, die neben mir im Zug sitzt, mir eine Banane anbietet. Dass es viele Initiativen für die Erhaltung der Traditionen gibt. Außerdem: die vielen Festivals, das leckere Essen, die gute Internetgeschwindigkeit.

GR: Es gefällt mir, dass es Raum gibt in der Kulturlandschaft, das aufzubauen, was es nicht gibt: Museen, Galerien, Bibliotheken, Schulen und Kultur im Allgemeinen. Aber auch Krankenhäuser.

Warum bist du im Land geblieben?

EW: Ich hatte keine Gründe zu gehen. Mir geht es hier gut, ich habe eine Karriere hier, außerdem bin ich sehr oft unterwegs im Ausland und deshalb wünsche ich mir nicht, anderswo zu leben. Und ich schreibe als Dramatikerin auf Rumänisch.
Ich musste auch keine schlimmen Erfahrungen machen, zum Beispiel mit rumänischen Krankenhäusern. Ich verstehe diejenigen, die gegangen sind. Alle haben ihre Gründe.

GR: Das frage ich mich auch, immer öfter. Aus Angst, wegen Armut, aus Gemütlichkeit vielleicht. Weißt du, wie es ist, wenn man Fieber hat und nichts einnimmt, weil man sagt, dass es vergeht? So ist es auch mit dem Bleiben. Vielleicht vergeht es.

Bleibst du noch?

EW: 2018 war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich für eine Sekunde gedacht habe: Was suche ich hier noch? Es war, als ich mir ein Video von der PSD-Versammlung im Juni angeschaut habe. Aber die Antwort ist: Ja, ich bleibe hier. Wenn alle weggehen, das ist auch keine Lösung.

GR: Ich werde nach Berlin ziehen, wann immer ich mir das leisten kann. 1944 oder ´45 ist meine Großmutter aus Berlin vor den Nazis nach Kronstadt geflüchtet. Sie konnte nur Deutsch und Serbisch. Erst hat sie Ungarisch gelernt, danach Rumänisch. Noch ist es für mich nicht nötig, vor den rumänischen Nationalisten zu fliehen, doch würde ich ungern warten, bis ich dazu gezwungen wäre. Nach Berlin zu ziehen – der Kreis würde sich somit schließen. Außerdem ist es Berlin!

Kennst du die anderen 99 Rumänen aus DoR? Welche/n schätzt du denn und wofür?

EW: Persönlich kenne ich vielleicht ein Drittel. Es sind Leute, die ich schätze und bewundere, Leute, mit denen ich befreundet bin. Für alle habe ich mich gefreut, als ich sie auf der Liste gesehen habe. Dann gibt es Leute, die ich nicht persönlich kenne, aber bewundere.
Ich habe mich sehr gefreut, dass Lavinia Braniște auf der Liste ist, ihr Roman „Null komma irgendwas“ ist meiner Meinung nach der beste rumänische Roman, der in den letzten Jahren geschrieben wurde. Oder der ehemalige Gesundheitsminister Vlad Voiculescu, der viel im Krebshilfe-Bereich gemacht hat. Oder der Regisseur Tudor Giurgiu, der Gründer des TIFF-Filmfestivals, das meiner Meinung nach sehr viel für die Entwicklung der Stadt Klausenburg getan hat.

GR: Ich kenne rund 70 Prozent von ihnen und schätze besonders diejenigen aus dem Kunstbereich (Perjovschi, Bercea, Raszovsky), weil sie diesen vertreten und einflussreich im Bereich sind. Wären sie vielleicht nicht dort gewesen, um gute Arbeit zu leisten, wäre ich vielleicht auch nicht hier, in der Zeitung.

Gibt es jemanden, der auf der Liste fehlt? Wer und warum?

EW: Auf der Liste sind 100 Namen und es gibt andere Hunderte, die fehlen. Ich würde gerne jemanden aus dem Theaterbereich nominieren: die Theaterautorin Mihaela Michailov und den Regisseur Radu Apostol, die seit einigen Jahren in Bukarest das Zentrum für Erziehung durch Theater „Replika“ gegründet haben. Nicht nur dass sie gute Inszenierungen für Kinder und Jugendliche bieten, sie haben es auch geschafft, an ein Publikum zu gelangen, das noch nie im Theater war. Ihnen gelingt, was vielen Schulen nicht gelingt: junge Leute für Kultur zu begeistern. Ich schätze sie sehr dafür.

GR: Wahrscheinlich noch einige Künstler, denke aber nicht an jemand besonders. Ich finde eher, dass 100 zu viele sind.

Herzlichen Dank für das Gespräch!