Zwischenräume und Überlappungen

Die Künstlerin und Pädagogin Teresa Leonhard über Heimat, Künstlerleben und Unterricht

Teresa Leonhard bei einem von ihr organisierten Konzert des Chores der Hermannstädter Fakultät für Orthodoxen Theologie in der Aula des Brukenthalgymnasiums.
Foto: Alexandru Ioniţă

Teresa Leonhard (geb. 1979) ist seit Anfang 2015 als Performance-Künstlerin, Pädagogin und Wissenschaftlerin in Rumänien beruflich tätig. Sie unterrichtet seit eineinhalb Jahren Musik und Tanz am Brukenthal-Gymnasium sowie an der Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt/Sibiu. Seit März 2017 lehrt und forscht sie auch an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. Als Künstlerin arbeitet sie in ihren Performanceprojekten gerne mit Laien, insbesondere auch mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen zusammen. Ihre Ausbildung hat die gebürtige Österreicherin an den Musikuniversitäten in Wien und Salzburg sowie an der Universität Wien in den Bereichen Musik- und Bewegungspädagogik, Harmonik und Musikwissenschaft abgeschlossen. Über ihre Erfahrungen in Rumänien und ihre Projekte sprach Teresa Leonhard mit ADZ-Redakteurin Eveline Cioflec.

Frau Leonhard, Sie stammen aus Oberösterreich und sind nun seit geraumer Zeit in Hermannstadt in der Lehre als Kunstpädagogin tätig. Was hat Sie nach Rumänien geführt?

Ich hatte immer ein Interesse für die große Region östlich von Österreich, zu der auch Rumänien gehört, besonders für den Balkan, und bin viel in Serbien, Kroatien, Bosnien gereist. Ich bin zur Hälfte (väterlicherseits) Donauschwäbin und die Frage nach der kulturellen Identität hat mich immer beschäftigt. Die Familie meines Vaters stammt aus Apatin, einer Stadt in der heutigen Wojwodina in Serbien, direkt im Grenzgebiet Kroatien-Ungarn-Serbien, an der Donau. Die gesamte Familie meines Vaters ist 1946 nach Österreich geflohen, im Zuge der Vertreibungen der Donauschwaben aus dem ehemaligen Jugoslawien durch Tito kurz nach dem Krieg. Mein Großvater ist an der Front gefallen; ihn hat mein Vater gar nicht kennengelernt. Meine Großmutter, mein Vater (geb. 1944), sein Bruder und meine Urgroßeltern haben vor ihrer Flucht nach Österreich im Jahr 1946 fast zwei Jahre im Vernichtungslager Gakowa in der Batschka verbracht.
 

Können Sie sich mit dem Osten Europas oder mit dem Balkan noch irgendwie identifizieren? Empfinden Sie selbst auch noch eine Zugehörigkeit?

Mein künstlerisches Diplomprojekt an der Universität Mozarteum Salzburg im Jahr 2004 („Heimat ist wie ich denke“) war genau diesem Thema, der Zugehörigkeit und Herkunft gewidmet, d. h. meinen Wurzeln mütterlicherseits in Österreich sowie jenen väterlicherseits in der Batschka. 2009 haben wir mit meinem Vater die erste Reise nach Apatin gemacht. Das war sicherlich ein Schlüsselerlebnis und das Interesse hat mich dann auch nicht mehr losgelassen. Was ich dabei gemerkt habe ist, dass ich unbewusst Bezüge zu dieser Region habe. Dadurch dass ich in meiner Kindheit auch die donauschwäbische Kultur mitbekommen habe, die vom Balkanischen geprägt ist – die Feste, die Speisen, die Sprache – kam mir in Serbien, und später auch hier in Rumänien so vieles bekannt vor. Es ist für mich ganz spannend, wie viele Verbindungen hervortreten.
 

Wie sind Sie nach Rumänien gekommen?

2007 war ich zum ersten Mal in Rumänien. Ich habe in Bukarest drei Monate mit Straßenkindern der Organisation „Concordia“ gearbeitet und mit ihnen das Tanztheaterstück „Comoara“ entwickelt. In dieser Zeit habe ich durch viele Fahrten im Land auch Siebenbürgen kennengelernt. 2012 kam ich wieder, allerdings nur für zwei Wochen, um an einer Konferenz an der Tomis-Universität in Konstanza teilzunehmen. So habe ich vor meiner Wiederkehr im Jahr 2015 schon viele Facetten des Landes entdeckt.
 

Welche Erfahrungen haben Sie in Bukarest gemacht?

Bukarest war für mich meine erste wirklich prägende Erfahrung mit dem Fremden. Am Anfang hat mich diese Stadt getroffen wie ein Schlag. Ich habe Zeit gebraucht, um damit zurechtzukommen. Und dann ist so eine Art „Hassliebe“ entstanden. Es war laut und heiß. Überall wurde ich mit Kontrasten konfrontiert. Gewohnt habe ich in der Außenhandelsstelle der Wirtschaftskammer Österreich (mein damaliger Ehemann hat dort ein Praktikum absolviert); das war eine sehr schöne Villa, mitten im Stadtzentrum. Aber der Unterschied zwischen diesem Leben im Zentrum der Stadt, die sich 2007 ja in einem spürbaren Aufbruch befand, und der Situation im Kinderhaus war für mich besonders hart und schwer zu „verdauen“. Die Arbeit im Kinderhaus war schwierig, vor allem weil ich keine unmittelbare Unterstützung hatte. Dazu kam, dass die Situation im Kinderhaus insgesamt problematisch war. Mich hat die Arbeit am damaligen Projekt emotional sehr berührt, trotz der künstlerisch-pädagogischen Erfahrung, die ich damals schon hatte. Die Zuneigung zu den Kindern war trotz dieser Erlebnisse da und insgesamt war das Interesse an diesem spannenden Land bei mir geweckt. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich eines Tages für länger wiederkommen werde... und einige Jahre später war es dann tatsächlich soweit.
 

Als Kunstpädagogin werden Sie auch später Projekte starten. Als Sie 2014 nach Rumänien zurückkehrten, arbeiteten Sie zunächst an „Elijah“ in Holzmengen/Hosman, später aber auch in Hermannstadt. Wie würden Sie Ihre Tätigkeit beschreiben?

Ich bin Rhythmikpädagogin. Meine Ausbildung in Musikpädagogik beruht auf einer über hundert Jahre alten Methode des Genfers Emile Jaques-Dalcroze, die Musik mit Bewegung verknüpft. Diese „neuen“, eigentlich auf dem antiken Modell der Musik basierenden Methoden entstanden in der Zeit der Reformpädagogik um die Jahrhundertwende. Mir hat dieser Zugang sehr entsprochen, weil ich mich seit meiner Kindheit in meiner Zukunft weder nur als Tänzerin noch als reine Instrumentalistin verstanden habe und immer beides verknüpft habe, anstatt Perfektion in einer Sparte zu erreichen. Der Zwischenraum, die Überlappung dieser Tätigkeiten hat mir also sehr entsprochen. Selbstverständlich kann man auch darin eine Perfektion entwickeln. Der Zwischenraum wird zum eigenständigen Bereich, der seinen eigenen künstlerischen Anspruch stellt.
 

Welche Vorteile weist die von Ihnen praktizierte Form von Musikpädagogik auf?

Der Hintergrund ist, den Zugang zur Musik über Bewegung zu finden. Und darin liegt zugleich eine Form des künstlerischen Ausdrucks. Die Frage ist ja: Wie erleben wir Musik? Natürlich kann man Musik auch einfach nur hören. Man bewegt sich sowieso immer innerlich mit und ganz minimal auch körperlich. Das Musikerleben wurde mit der Zeit immer statischer. Wenn man in die Antike zurückgeht, so hat das griechische musiké, von dem das Wort Musik stammt, viel mehr beinhaltet: Es war nicht als Musik lediglich im Sinne von Klang gemeint, sondern es meinte zugleich die Bewegung, den Tanz. Ausdruck über den gesamten Körper, Bewegung und Sprache waren integriert. Musiké war eine Einheit dieser drei Bereiche. Später hat sich das immer mehr auseinanderentwickelt. Musik und Tanz wurden getrennt. Mit dem Aufkommen des Bürgertums und den Konzertsälen wurden das Sitzen und Zuhören zentral und nicht mehr das Bewegen. Das einzige Mal bewegen wir uns etwa bei einem klassischen Konzert, wenn wir klatschen. Ansonsten fällt es schon auf, wenn jemand ein bisschen mitschwingt. Gerade in der Musikpädagogik wurde die unbewegte Haltung auch in Bezug auf Instrumente gepflegt. Aus dem 18. und 19. Jahrhundert existieren viele schriftliche Beispiele und Quellen, anhand deren man sieht, wie Schüler gezwungen wurden, statisch am Instrument zu sitzen, sogar mit diversen Hilfsmitteln. Ob Musik so wirklich gefühlt werden kann, ist sehr fraglich. Und darum geht es in dieser Form der Musikpädagogik: Musik mit dem ganzen Körper erleben, fühlen.
 

Was genau kennzeichnet die Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert – aus künstlerisch-pädagogischer Sicht?

Erstens einmal die Transgression, d. h. aus dem engen Genre ausbrechen, die Spartengrenzen überschreiten und dann zu suchen, wo noch Ausdrucksmöglichkeiten gefunden werden können, um auch anders zu erleben. Im Bereich der Musik war das stark die Bewegung. Da hat Emile Jaques-Dalcroze, ein Schweizer Komponist und Musikpädagoge, Gründer der „Rhythmik“, mit einfachen Bewegungsübungen begonnen, um seine Schüler dazu zu bringen, Musik zu fühlen. Es ging ihm zunächst darum, den Rhythmus zu spüren, weil zwischen Rhythmus und Bewegung eine ganz enge Verbindung besteht. Später entwickelte er diesen Ansatz auch in alle anderen Ebenen der Musiktheorie, des Musikerlebens, so etwa mit Bezug auf Tonhöhenveränderungen im Raum und die Möglichkeit, Musik körperlich ausdrücken. Er hat eine eigene Kunstform entwickelt, die „Plastique animée“, um Musik in den Raum zu bringen. Diese Methode und dieser Ansatz werden heutzutage an vielen Musikhochschulen gelehrt und ich wende sie auch an, sowohl in meiner Lehre als auch in meinen Projekten zur Performance.
 

Sie haben im letzten Jahr die großartige Performance „Ver/rückungen“ mit Musikern der Philharmonie, einer Organistin, einem orthodoxen Chor, mit Schülerinnen und Schülern des Brukenthalgymnasiums sowie Erwachsenen aus der Hermannstädter Behindertenwerkstatt des Diakoniewerks in der Johanneskirche in Hermannstadt inszeniert. Wieso ausgerechnet Performance?

Ich arbeite gerne mit unterschiedlichen Menschen und ihren jeweils individuellen Zugängen zur Kunst. Und ich arbeite gerne im Zwischenraum zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen, also musikalisch, tänzerisch, bildnerisch und literarisch zugleich. Das Genre „Performance“ ist ja aus diesem Grund entstanden, weil Künstler die jeweilige Sparte der Kunst durchbrochen haben. Zugleich geht es mir um den Zwischenraum von Kunst und Wissenschaft, um das Wechselspiel von Wahrnehmung und Erkenntnis. Die Kunst schult die Wahrnehmung, im Sinne der ästhetischen Bildung, wie die Wissenschaft die Erkenntnis fördert. Ich habe nicht den Anspruch, durch die Kunst alle meine Schüler oder Projektteilnehmer zu Künstlern zu erziehen, in dem Sinne, dass jeder zum Musiker werden muss, der Musikunterricht nimmt. Es geht mir vielmehr um ästhetische Bildung im grundlegenden Sinne.
 

Was ist das Besondere an der Kunst mit Bezug auf die Schulung der Wahrnehmung?

Ein künstlerisches Gebilde, was es auch immer ist – sei es ein Roman, ein Gedicht, ein Musikstück, eine Performance, ein Bild – berührt uns. Wenn wir uns darauf einlassen, passiert etwas mit uns und dann müssen wir, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels hervorgehoben hat, antworten. Es entsteht ein responsiver Prozess: Zunächst gibt es den Reiz – visuell, auditiv, taktil –, dann muss ich aber etwas tun, ich muss damit umgehen. Kunst, anders als etwa Naturwahrnehmungen, verfremdet und setzt die gewohnten Dinge in einen anderen Kontext. Das fordert heraus. Eine Bildung der Wahrnehmung schult die ästhetische Sensibilität und das Vermögen, auf diese Herausforderungen zu antworten.
 

Verstehen Sie sich eher als Künstlerin oder als Pädagogin?

Ich sehe mich als Künstlerin, die pädagogisch, d. h. im Bildungskontext, arbeitet. In jedem von uns steckt der Künstler, weil wir alle, als Menschen, zu schöpferischem und zwecklosem Tun neigen. Auch im Nachdenken steckt Kunst drin, oder wenn man einen Stuhl baut. Aber im engeren Sinn, des Berufskünstlers, geht es ums schöpferische Gestalten, um das Produkt, d. h. bei mir Performance. Am Anfang einer Arbeit steht entweder ein Thema oder es kann auch mal nur ein Raum sein, der inspiriert. Auf meiner Liste gibt es auch Werke, die keinen Titel haben und die einfach in einem Raum entstanden sind. Ich arbeite speziell mit Improvisation. Was entsteht, das teile ich als Künstlerin auch mit und das stelle ich auch in Konfrontation mit meiner Umwelt. Dafür braucht es, neben Talent, gewisse Techniken, die man lernt. Als Pädagogin geht es mir darum, im Rahmen der ästhetischen Bildung auch letztere, d. h. Techniken und Zugänge weiterzugeben, auch im derzeitigen Unterricht am Brukenthalgymnasium, an der Lucian-Blaga-Universität und seit Neuestem auch an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.
 

Stehen in Hermannstadt bereits weitere Projekte in Aussicht?

Ja, es gibt tatsächlich viele Pläne. Für das Frühjahr ist die Gründung einer Tanzkompanie mit Behinderten und nicht behinderten Tänzern geplant; eine Performance für 2018 steht auf dem Programm. Als quasi „kulturelle Vermittlerin“ zwischen Rumänien und Österreich arbeite ich auch eng mit dem Österreichischen Kulturforum in Bukarest zusammen. Für den kommenden Herbst plane ich einen „Österreich-Tag“ – ein spezifisches Kulturprogramm mit Bezug vor allem zu zeitgenössischer Kunst aus Österreich, wie es in anderen Städten in Rumänien schon stattgefunden hat. Dann stehen Ideen für transdisziplinäre Forschungsprojekte im Raum, die Kunst und Wissenschaft, Forscher verschiedener Fachrichtungen, aber auch Schüler und Wissenschaftler miteinander verbinden. Und schließlich lote ich gerade die Realisation eines größeren Werkes meines Doktorvaters Werner Schulze („Passio“) aus und spinne Ideen mit Musikern der Philharmonie für neue Kollaborationen von Tanz und Live-Musik.
 

Frau Leonhard, vielen Dank für das Gespräch.