Erinnerungen an die Kriegserlebnisse des Großvaters

„Wofür war das alles gut?“

Lorenz Schankula in rumänischer Uniform (22. Juni 1942 – Russland).

Lorenz Schankula (Mitte) mit seinen Kameraden Gottlob und Eberhardt (31. März 1944 – Riga, Lettland) Fotos: Familienbuch Schankula

Als Kind ist man manchmal der alten Geschichten überdrüssig, oder zumindest gelangweilt, wenn Opa und Oma die immergleichen Erlebnisse aus dem Krieg erzählen. Schließlich ist der Krieg so unendlich weit weg. Oft wünschte ich jedoch, ich hätte damals, als es zu Opas Lebzeiten noch möglich war, genauer nachgefragt und die Daten seiner einzelnen Stationen notiert. Es ließe sich noch genauer nachvollziehen, was er und seine Familienangehörigen in dieser schweren Zeit erlebten.

Heute sind wir täglich konfrontiert mit Bildern aus der Ukraine und ich muss an meinen Opa denken und plötzlich ist der Krieg ganz nah. So möchte ich für die Allgemeinheit und ganz besonders für die nächste Generation einen Teil der Erlebnisse festhalten, die mir aus den fast täglichen Erzählungen meines Großvaters Lorenz Schankula in Erinnerung geblieben sind. Aus seinem Heimatort Traunau, im Banat hat er mit beinahe 16 Dienstjahren (1936-1951) von allen Männern die vermutlich längste Zeit als Soldat aufzuweisen. Dies jedoch nicht aus Überzeugung, sondern infolge verschiedenster Verstrickungen während seines langen Kampfes um das pure Überleben vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als Wehrpflichtiger wurde er 1936 im Alter von 22 Jahren in die rumänische Armee eingezogen. Es war keine angenehme Zeit. Sie war geprägt von hartem Arbeitsdienst, schlechter Ernährung, Diebstahl durch Vorgesetzte sowie Prügelstrafen und Schikanen, besonders der deutschstämmigen Minderheit gegenüber. Es gab damals die Option, die reguläre Dienstzeit von drei auf zwei Jahre zu verkürzen, wenn man ein Pferd mitbrachte. Durch den frühen Tod seines Vaters musste Lorenz bereits mit 14 Jahren schwere Feldarbeit am Pferdepflug verrichten, was gerade so reichte, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Die Familie konnte es sich also nicht leisten, ein zusätzliches Pferd abzustellen und so musste er die volle Zeit bei der Armee bis 1939 ableisten. Zu Hause wartete seine Frau Anna, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war. Aber noch bevor mein Vater Willi am 6. September 1939 geboren wurde, brach fünf Tage zuvor der zweite Weltkrieg aus. Auch wenn Rumänien erst später militärisch in den Krieg eintrat, wurden bereits im Sommer 1939 Reservisten eingezogen. Lorenz war somit bei der Geburt seines Sohnes wieder aktiver Soldat fern der Heimat. Aus den ersten Kriegsjahren sind nur wenige Zeugnisse erhalten geblieben, außer einem Foto aus dem Jahr 1942, in rumänischer Uniform mit Grüßen aus Russland. Es muss im Winter 1942/43 gewesen sein, als sich eine für ihn schicksalhafte Wendung ergab. Völlig geschwächt durch eine Ruhr-Erkrankung hatte er den Anschluss an seine marschierende Truppe verloren und er wäre in einer bitterkalten Nacht beinahe erfroren.  Völlig allein, blieb ihm keine andere Wahl, als den Weg zu verlassen und auf ein Licht in der Ferne zuzugehen. Dies war seine Rettung. Mühsam erreichte er auf diesem Weg ein deutsches Lazarett, wo er gesund gepflegt wurde. Später erfuhr er, dass mehrere ebenso erkrankte Kameraden sich im offenen Wagen haben mitnehmen lassen, wo sie mangels Bewegung erfroren. Die restliche Truppe marschierte später Richtung Stalingrad weiter, was für viele den sicheren Tod bedeutete.

Nach seiner Genesung machte Lorenz sich im Lazarett nützlich, wo er nur konnte, in der Hoffnung, an diesem sicheren Ort weiter bleiben zu können. Die Hoffnung währte aber nicht sehr lange, denn schon bald wurde er von rumänischen Feldjägern aufgegriffen. Er wurde wegen unerlaubtem Fernbleiben von der Truppe, also Desertation, vor ein Kriegsgericht gestellt. Statt kurzen Prozess mit ihm zu machen, hat man zum Glück seine Erklärungen eingehend überprüft. Schließlich wurde er, vor allem durch die Fürsprache der Offiziere und Ärzte aus dem Lazarett, wieder dorthin entlassen. Nachdem Rumänien bereits am 23. November 1940 dem „Dreimächtepakt“ beigetreten war, unterzeichnete man zusammen mit Deutschland am 12. Mai 1943 das sogenannte „Waffen-SS-Abkommen“ in Bukarest. Hierdurch konnten „Volksdeutsche“ straffrei von der rumänischen zur deutschen Armee wechseln, während zuvor ein Übertritt als Desertation geahndet werden konnte. Im Rahmen dieser groß geplanten Anwerbeaktion ist Lorenz im Sommer 1943 in die deutsche Armee eingetreten, was aber nur bei gleichzeitigem Eintritt in die Waffen-SS möglich war. Durch seine Erfahrung als medizinische Hilfskraft im Lazarett gelang es ihm, einen Platz bei der Sanitäter-Ausbildung zu bekommen, wodurch er um den Jahreswechsel 1943/44 herum nach Riga in Lettland versetzt wurde.

Für mich war es ein sehr bewegender Moment, als ich beinahe genau 70 Jahre später, auf einer Geschäftsreise, erstmalig die restaurierte und sehr schöne Altstadt von Riga besuchen konnte und schließlich am Ufer der Düna vor dem Schloss stand, das Opa häufig erwähnt hatte.

Zum Ende der Ausbildung in Riga gelang es Lorenz, sich nach Wien versetzen zu lassen. In bester „Soldat Schwejk“-Manier hatte er vorgegeben, seinen schwer verletzten Bruder in Wien zum vermeintlich letzten Mal sehen zu können. Die Stadt war noch ein vergleichsweise sicherer Ort und der Weg nach Hause war nicht mehr ganz so weit. Mit seinen 30 Jahren war Lorenz bereits ein alter Hase und er ließ sich, so gut es ging auf keine unnötigen Abenteuer ein. Viele Jahre nach dieser Zeit konnte er immer noch nicht begreifen, wie verblendet vor allem viele Neulinge waren. In ihrem blinden Enthusiasmus waren sie erpicht darauf, Heldentaten zu vollbringen und sind doch, oft schon nach wenigen Tagen, den sinnlosen „Heldentod“ gestorben. Im gleichen Jahr noch muss er nach Budapest gelangt sein, denn dort geriet er, etwa im Dezember 1944, in russische Gefangenschaft. Entsetzt hörte ich als Kind die grausamen Details aus diesen Tagen, etwa wie ein Kamerad in nächster Nähe durch einen Genickschuss hingerichtet wurde. Alle rechneten bereits damit, das gleiche Schicksal zu erleiden, und im Graben neben der Donau ihr Grab zu finden. Ein weiteres Mal jedoch wurde er, wie auch seine Kameraden, verschont, ohne je zu erfahren, was den Sinneswandel der russischen Politkommissarin bewirkt hatte.

All diese Erzählungen gehen mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich wie schon so oft diese Stadt besuche. Vor allem mein erster Besuch dort war eine tiefgreifende Erfahrung. Opa hatte uns Kindern immer die Namen der Donaubrücken in ihrer Reihenfolge aufgezählt, aber die älteste Budapester Donaubrücke war etwas Besonderes. Auf meiner ersten Geschäftsreise nach Budapest fuhren wir über die Kettenbrücke. Mir liefen unentwegt Schauer über den Rücken und ich hatte das Gefühl, Opas Erinnerungen nachzuerleben. Ich war froh, dass wir direkt am Ufer in den alten Tunnel unter der Burg fuhren, so dass meine Kollegen nicht merkten, wie ergriffen ich war.

In russischer Gefangenschaft musste Lorenz unter Tage arbeiten, was eine schwere und gefährliche Arbeit war. Ein weiteres Mal blieb ihm Fortuna treu, als er mit knapper Not einem Stolleneinbruch entkam. Ein herabstürzender Fels hatte ihn so knapp verfehlt, dass er noch die Schirmmütze von seinem Kopf riss. Trotz mangelnder Erfahrung gelang es ihm, sich mit der Zeit als Schreiner zu profilieren. Das half ihm, eine weniger gefährliche Arbeit über Tage zu bekommen. Die Kriegsgefangenen litten alle sehr unter der Mangelernährung und dem Hunger und umso verwerflicher war es, wenn jemand Lebensmittel stahl. Opa schilderte eindrucksvoll, wie brutal die Bestrafung durch die Kameraden ausfallen konnte. Dem Delinquenten wurde ein Sack über den Kopf gestülpt und dann wurde er beinahe totgeschlagen. Über sechs lange Jahre verbrachte Lorenz unter diesen Umständen in Gefangenschaft. Immer wenn Entlassungen anstanden, mussten alle Soldaten mit nacktem Oberkörper und erhobenen Armen die Wachen passieren. An der Tätowierung der Blutgruppe auf dem Oberarm waren die Mitglieder der Waffen-SS leicht zu erkennen. Ob jemand besondere Schuld auf sich geladen hatte, wurde nicht gefragt, sondern es wurde pauschal aussortiert und gegebenenfalls die Entlassung immer wieder verschoben. Lorenz muss, zumindest zeitweise, in einem Kriegsgefangenenlager in der damaligen Sowjetrepublik Armenien (vermutlich in Jerewan, Lager 115) gewesen sein. Oft betonte er, dass man von dort aus sehr gut den Berg Ararat (Agri Dagi, 5137m) sehen konnte. Es mag ihm ein Trost und ein Hoffnungsschimmer gewesen sein, dass es sich um eben jenen Berg handelte, an dem der Bibel nach Noah nach der Sintflut wieder an Land ging. Als Lorenz dann im Jahr 1951 endlich den Rücktransport nach Hause antreten konnte, war seine Odyssee jedoch noch nicht beendet. Er war zwar in Rumänien angekommen, aber bevor es tatsächlich nach Hause ging, wurden die Kriegsgefangenen nochmals vom rumänischen Staat interniert. Erst nach mehreren Monaten, und intensiven Prüfungen auf mögliche Kriegsverbrechen, wurde er entlassen und kehrte nach Traunau zurück. Lorenz war endlich zu Hause angekommen, aber er befand sich in einer anderen Welt. Die Kommunisten hatten unter sowjetischer Vorherrschaft die Macht ergriffen. Die Bauern waren enteignet und man hatte Lorenz sogar die Arbeit in der „Kollektivwirtschaft“ verweigert. Früher Heimgekehrte konnten sich bereits ein neues Leben aufbauen oder zumindest die Not der ersten Nachkriegsjahre überwinden. Opa jedoch blieb nur die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch schlecht bezahlte Arbeit, wieder weg von zu Hause, beim Bau von Bahngleisen zu verdienen. Nie jedoch hat sich Opa uns gegenüber verbittert gezeigt, aber oft hat er uns mit den Worten „Wofür war das alles gut?“ ermahnt, nicht zu vergessen, wie sinnlos Krieg ist.

Gerade jetzt, in einer Zeit, in der mächtige Politiker wieder einmal ihren imperialen Wahn ausleben, will ich mich Opas Aufruf anschließen. Gerne möchte ich ein klein wenig mithelfen, dass das Unheil, welches die Nazis und andere Diktaturen über die Welt gebracht haben, nicht vergessen wird. Wie viele Mitglieder seiner Generation hat Lorenz die Auswirkung von linker, wie auch rechter Diktatur und Gewaltherrschaft erlebt, was ihn zeitlebens zu einem Kritiker jedweder menschenverachtenden Ideologie werden ließ. Seine heftige Abneigung brachte er mit einfachen Worten zum Ausdruck: „Faschismus und Kommunismus – ist doch alles der gleiche Dreck!“