„Ich wusste nicht, was ich machen soll“

Panzerfahrer während der Revolution in Temeswar

Dezember 1989: Gheorghe Chiriches am Opernplatz, auf seinem Panzer

Der ehemalige Berufssoldat, der heutzutage in Rente ist, erzählt der BZ, wie er die Rumänische Revolution in Temeswar erlebt hat.
Fotos: Zoltán Pázmány

Was genau während der Revolution 1989 passiert ist, wer die Befehle zum Schießen erteilt hat und welche Motivation dahinter stand…das wird man wohl nie genau erfahren. Mehr als eintausend Menschen starben und die anderen blieben mit der lebendig erhaltenen Erinnerung dieser blutigen Tage. Der folgende Bericht stützt sich auf ein Gespräch mit einem ehemaligen Berufssoldaten aus der Militäreinheit 01115 in Girok bei Temeswar. Von 1975 bis 1994 war Gheorghe Chiriches dort angestellt. Der ausgebildete Panzerfahrer aus dem Ort Luizi-Calugara im Verwaltungskreis Bacau, der die Militärschule in Pitesti abgeschlossen hat, erzählt der BZ seine Erinnerungen über die Rumänische Revolution vom Dezember 1989.


Die Ruhe vor dem Sturm

Am Sontag des 17. Dezember 1989 lief der Film „Lovitura Fulgeratoare“/“Die Männer von Wu Dang“ (1983) im Capitol-Kino. Die zwei Kinder von Gheorghe Chiriches wollten diesen Film unbedingt sehen, also beschloss die ganze Familie, ins Kino zu gehen. „In der Stadt war eine merkwürdige Stimmung, wir hatten keine Idee, was los war“, erzählt Gheorghe Chiriches. Einige Straßenbahnen fuhren nicht mehr, was es schwieriger machte, ins Kino zu kommen. „Die Kinder haben den Film genossen, aber ich und meine Frau nicht. Ich konnte ihn nicht aufmerksam verfolgen. Da draußen passierte etwas und wir wussten nicht, was.“ Als der Film zu Ende war, durften die Zuschauer das Kino nicht mehr durch den Haupteingang verlassen. Er war abgesperrt. Sie mussten durch den Hintereingang, der zum Park führte, hinaus. Die Familie beeilte sich nach Hause. Auf dem Heimweg fiel Gheorghe Chiriches etwas Besonderes auf: „Als wir neben dem Park-Kino angekommen waren, sahen wir einen kurios anmutenden Mann auf der Umzäunung des Parks (der jetzige Volkspark/“Parcul Poporului“), der mit Pathos schrie:  „Rumänen, vereinigt euch!“. Zumindest für mich war er kurios, da er einen langen Bart hatte, irgendwie anders als die anderen angezogen war und auf eine andere Art und Weise sprach. Auch wie er dieses Wort ‘Rumänen’ aussprach, das habe ich merkwürdig gefunden. Wir nannten uns üblicher Weise ‘Genossen‘/‘tovarasi’ oder ‘Männer und Frauen’. Die Leute wussten nicht, ob sie stehen bleiben und ihm zuhören oder weiter gehen sollen. Er konnte jeden Moment erschossen werden, aber ihm ist nichts passiert. Für mich schien es so, als ob er ein Fremder sei.“


Gefahr auf den Straßen

Einmal zuhause angekommen, konnte Gheorghe Chiriches sich nicht beruhigen. Eine Nachbarin sagte ihm, dass ihr Mann schon auf dem Weg zur Militäreinheit ist – sie wohnten in Dienstwohnungen, neben dem Unternehmen für Stromzähler, AEM  – und dass Chiriches vielleicht auch dorthin gehen sollte. „Aber nicht in Militäruniform gekleidet“, das hat sie ihm noch gesagt und dann hat er verstanden, dass es ernst ist. „Nein, man hat keine Alarmsituation verhängt, niemand ist mich abholen gekommen, aber ich wusste einfach, dass ich dort sein muss, wenn etwas Schlimmes passiert. Wir wurden so ausgebildet. Einer musste zu dem anderen stehen.“ Also nahm Chiriches sein Fahrrad und ist in Richtung Militäreinheit gefahren. In Zivilkleidung. Nur seine zur Uniform gehörende Mütze hat er in der Tasche mitgenommen. Zum Glück haben sie die jungen Leute, die ihn auf der Straße aufhielten und kontrollierten, nicht gefunden. Einer seiner Kollegen wurde zuvor von denselben Menschen aufgehalten und ist fast verprügelt worden, hätte er nicht schnell die Autotür geschlossen und wäre weggefahren.

 

Unbeantwortete Fragen

In der Militäreinheit hat Gheorghe Chiriches erfahren, dass schon vor ungefähr vier Stunden acht Panzer in die Stadt gefahren sind. Die nächsten hätten bald schon folgen sollen. Er ging in die Kanzlei, zog sich eine Militäruniform über, so wie es üblich war und traf auf einen seiner Kollegen, mit dem er den Rest des Tages zusammen blieb. Zwei Männer sollten für jeden Panzer eingeteilt werden – das war ungewöhnlich, denn in einen Panzer gehören vier Leute, jeder mit seiner Aufgabe: Fahrer, Auflader, Schütze und Kommandeur. Als sie am Tor des Autoparks ankamen, wurden die Maschinen aufgehalten. Einer der Kommandanten stoppte sie und sagte den Soldaten, dass sie nirgendwo hinfahren müssen. Ein anderer hat ihnen befohlen, dass sie zum Munitionslager gehen sollen, um andere Panzer aufzuladen. „Es war schon spät am Abend. Als wir so über das Feld gingen, fingen wir an, über die ganze Sache zu sprechen. Mein Kollege fragte mich, ob ich nach draußen gehen möchte, um gegen mein eigenes Volk zu kämpfen. Ich konnte so etwas nicht verstehen. Wir waren dafür ausgebildet, um die Grenzen und unser Land vor Fremden zu schützen, nicht vor uns selbst. In unserem Eid als Militär stand nirgends, dass wir gegen unser Volk kämpfen müssen!“

In diesen Stunden starben bereits Menschen auf der Girocului-Straße, der heutigen Martirilor-Straße. „Wir können die Armee nicht entschuldigen. Manche Soldaten haben in den Asphalt geschossen, manche auf Menschen. Manche haben es aus Hass getan, weil sie verprügelt wurden, andere aus Überzeugung, dass sie nur so den Aufstand niederschlagen können“, so Chiriche{. Doch dass die Revolutionären die Panzer aufgehalten haben, das glaubt er nicht. „Einen Panzer kann man nicht so einfach stoppen. Ein Amphibienfahrzeug (TAB) schon, aber nicht einen Panzer. Wenn der einmal losfährt, dann kann man ihn nicht mit Stöcken, Brecheisen und nicht einmal mit einer Straßenbahn stoppen. Die Fahrer haben wohl selbst entschieden, anzuhalten“, führt Chiriches fort.

 

Nachdem Ceausescu geflüchtet war…

Nach fünf Tagen in der Militäreinheit hat der Kommandant den Befehl gegeben, sie sollen sich alle ins Stadtzentrum begeben, um die Revolutionären vor Ceausescus Leuten zu schützen. „Dort, im Zentrum, hatte ich die größte Angst meines Lebens.“ Es war in der Nacht vom 22. zum 23. Dezember. Es waren keine Menschen mehr da. Die Soldaten blieben in ihren Panzern. Draußen bestand die Gefahr, erschossen zu werden. Man sagte ihnen vom Balkon der Oper, dass in den Gebäuden auf dem Platz zwischen Oper und orthodoxer Kathedrale Ceausescus Terroristen sind und dass sie deshalb mit Maschinengewehren auf die Gebäude schießen sollen. Ihnen wurde ebenfalls gesagt, sie sollen ganz aufmerksam den Horizont beobachten, weil von Anina her mehrere Helikopter mit Terroristen kommen werden und dass sie diese sofort abschießen sollen. „Auf einmal sahen wir an einem Fenster, wie zwei Miliz-Leute ein weißes Band zeigten, als Zeichen, dass sie sich ergeben.“ Die Soldaten brachten diese in den Arrest, aber von dort wurden sie schnell entlassen. „Sie spielten dort immer Tennis zusammen, natürlich haben die sie ohne weitere Untersuchungen frei gelassen“, erzählt Chiriches enttäuscht.

Nach dieser turbulenten Nacht erschienen erneut Massen von Menschen im Stadtzentrum, auch wenn die Gefahr mindesten noch eine Woche andauern sollte. Die Soldaten bekamen von den Leuten Kaffee, von den Restaurants im Stadtzentrum das beste Essen. „Und das war auch der Moment, in dem wir die ersten Cola- und Fanta-Flaschen vom Militärrestaurant bekommen haben. Ich kann die Begeisterung meiner Kinder, als sie die Flaschen gesehen haben, gar nicht beschreiben“. Und so endete für ihn die Revolution; so hat sie der ehemalige Panzerfahrer Gheorghe Chiriches erlebt. Die nächsten Jahre hat er sich anders vorgestellt. „Ich dachte, man wird alle implizierten Menschen verhören und genau ermitteln, wer was gemacht hat. Das Leben ging aber weiter, genauso wie früher, als sei nichts geschehen. In unserer Militäreinheit hat sich fast nichts geändert. In Führungspositionen blieben die Gleichen.“