Keine Monteure, keine Zimmermädchen, keine Schneider, keine Bäcker

Wachstum von Arbeitskräftemangel gefährdet / Aber trübe Perspektiven für 270.000 der 20- bis 24-Jährigen

Das duale Ausbildungssystem, wie in Siebenbürgen und im Banat von den Deutschen Wirtschaftsclubs in die Wege geleitet, könnte die Lösung sein für den akuten Fachkräftemangel in der Industrie. Doch die flächendeckende Einführung dieses Sysems steht noch bevor. Im Bild: Duale Ausbildungsklassen am Temeswarer Emanoil-Ungureanu-Kolleg, zu Besuch der deutsche Botschafter Werner Hans Lauk.

Ein Vier-Sterne-Hotel in der Hamburger City Nord, von Firmenzentralen umgeben, der Stadtpark in unmittelbarer Nähe, kurz nach Neun: Auf einem Flur wird munter Rumänisch gesprochen, eine junge Frau erklärt einem ebenso jungen Mann, welche Zimmer als erste aufgeräumt werden müssen. Er antwortet, sein ungarisch-siebenbürgischer Akzent ist sofort herauszuhören. Sie kommt aus Câmpina, er aus Sfântu Gheorghe. Seit sechs Monaten arbeitet sie in der Hansestadt, er ist erst vor Kurzem dazu gestoßen.

Standortwechsel: Ein Merkur-Markt in Vösendorf bei Wien, Schönbrunner Allee: Die Kassiererin, eine Frau mittleren Alters, sagt „bună ziua” und fragt sofort, aus welchem Ort man komme, sie käme nämlich aus Großwardein/Oradea. Und die Kolleginnen an anderen zwei Kassen aus dem Raum Hunedoara. Die Arbeit sei keine leichte, sagt die Frau. Klar, der Job an der Supermarktkasse kann schon hart sein, in Vösendorf genauso wie in Großwardein.

Eine Auchan-Filiale in Temeswar, Arader Straße, Samstagabend: Von 38 Kassen sind nur vier in Betrieb, 20 Minuten kauft man ein, 40 Minuten wartet man an der Kasse. Alle fünf Minuten erklingt eine Lautsprecheransage: „Wir stellen Kassierer ein, Voll- oder Teilzeit, attraktive Löhne, melden Sie sich jetzt an unserem Informationsstand.” Einer, der gerade die Schlange vor der Kasse erblickt, meint, er würde den Job machen, für eine halbe Stunde Aushilfe leisten, dann würden er und auch die anderen wohl schneller nach Hause kommen.

Berichte in Rumäniens Ziarul Financiar: Ein deutscher Kfz-Zulieferer aus dem Raum Kronstadt/Brașov findet keine Arbeiter, ein anderer aus Temeswar würde gerne bis Ende des Jahres noch 400 weitere anstellen. Und noch ein schneller Blick in der Temeswarer Wochenzeitung Agenda: Das Arbeitsamt gibt bekannt, dass zum 17. August 2016 im Kreis Temesch 966 Stellen zu besetzen sind, in allen Bereichen der Industrie, des Einzelhandels, der Gastronomie. Dazu noch die einzelnen Stellenanzeigen, gesucht werden Fahrer, Schweißer, Mechaniker, Schneider, Zimmermädchen, Wachleute, Verkäufer, Buchhalter, Industriearbeiter, gelernt oder ungelernt, Bauingenieure, Monteure, Zimmerer, Reinigungshilfen, Elektriker.

Zweifelsohne: Die rumänische Volkswirtschaft erlebt einen neuen Boom, ähnlich wie in den Jahren 2007 - 2008. Der Konsum klettert in die Höhe, das Bruttoinlandsprodukt verzeichnete laut Eurostat-Angaben in den Monaten April bis Juni 2016 ein Plus von 5,9% Prozent im Vergleich zur selben Zeitspanne des Vorjahres. Rumänien belegt damit den ersten Platz in der Europäischen Union. Hohe Wachstumsraten verzeichneten außerdem die Slowakei (+ 3,7 Prozent) und Spanien (+ 3,2 Prozent). Bergab ging es nur in Griechenland (- 0,7 Prozent). Das Nationale Institut für Statistik in Bukarest meldete für das erste Halbjahr 2016 ein saisonal bereinigtes BIP-Wachstum von 5 Prozent, in Vergleich zu 2015.

Alles schön und gut, würde man meinen. Doch wie so oft in Rumänien trügt der Schein. Ja, es wird mehr verbraucht, es wird mehr gebaut, ja, in den Großstädten entsteht sogar eine Immobilienblase. Ja, manchen Zweigen geht es blendend. Aber, und dieses Aber ist lästig und wird immer lästiger: Die Industrieproduktion meldet nur mickrige Wachstumsraten (+ 1,4 Prozent), das BIP-Plus geht auf den Konsum zurück. Deshalb auch das steigende Außenhandelsdefizit, die Einfuhren steigen weiterhin deutlich schneller als die Ausfuhren. Man schaue sich auch die sogenannte Bruttokapitalbildung an: 2015 wuchs sie um 8,8 Prozent im Vergleich zu 2014, im ersten Halbjahr 2016 aber nur noch um 7,5 Prozent. Zwar sind die zwischen Januar und Mai getätigten Auslandsinvestitionen um 15,2 Prozent höher als in derselben Zeitspanne des Vorjahres (1,1 Milliarden Euro), doch die öffentlichen Investitionen liegen bei nur 60 Prozent des im Staatshaushalt für 2016 vorgesehenen Niveaus.

Investitionsbereitschaft gibt es, zumindest im privaten Sektor. Aber das Potenzial wird nicht ausgeschöpft. Dafür gibt es zwei Gründe. Beide hängen mit der Unfähigkeit des rumänischen Staates zusammen, das zu liefern, was er seit eineinhalb Jahrzehnten verspricht: eine halbwegs funktionierende, den Forderungen der Zeit entsprechende Verkehrsinfrastrukur und jene geschulte Arbeiterschaft, mit der sich das Land lange gerühmt hat.

Die Infrastruktur gibt`s ansatzweise, dem Staat gelingt`s aber nicht, unter keiner Regierung, auch unter dem Technokratenkabinett nicht, den Bau von Autobahnen, die Modernisierung der Eisenbahn, der Häfen und Flughäfen, voranzubringen. Es gelingt dem Staat auch nicht, die Qualität der Bildung zu gewährleisten. Zum einen. Zum anderen ist das Fehlen der arbeitsfähigen Bevölkerung zu einem erschreckenden Problem geworden. Sicher, ein paar Millionen Arbeitsfähige und- willige sind weg, sie sind von Sevilla bis Hamburg und von Glasgow bis Bari zu finden. Seit der Wirtschaftskrise 2008/2009 auch verstärkt im deutschsprachigen Raum.

Daran kann die Wirtschaftsentwicklung Rumäniens scheitern. Der Mangel an Arbeitskräften hemmt Investitionen, vor allem in der Industrie. Genauso hört sich das an, wenn Manager über ihre Probleme erzählen. Man könnte noch eine Werkhalle hinstellen, Aufräge habe man genügend, aber woher soll man die Leute holen? Zuwanderung kommt nicht in Frage. So gastfreundlich sich die Rumänen auch präsentieren, eine Massenimmigration stoßt auf Widerstand, sodass vorerst daran gar nicht zu denken ist. Im Kreis Temesch scheiterte sogar eine Initiative der im Raum Großsanktnikolaus/Sânnicolau Mare - Hatzfeld/Jimbolia angesiedelten Industrie, Gastarbeiter aus dem Nachbarland Serbien zu beschäftigen. Ebenso in Karasch-Severin. Nicht am Widerstand der hiesigen Arbeiterschaft, sondern am Unwillen der zuständigen Behörden.

Eine Rückkehr der Auslandsrumänen? Trotz Euro-Krise, Brexit, drohender Terrorismusgefahr hält sich der Rückkehrwille in Grenzen. Und eine ernsthafte Kampagne zur Rückkehr-Ermutigung gibt es nicht. Sind einmal ganze Familien ausgewandert, sind Ehepartner und Kinder nachgeholt, bleibt die Rückkehr wohl die letzte Option.

Man lese und staune trotzdem: 270.000 der 20- bis 24-Jährigen sind in Rumänien weder in der Ausbildung, noch gehen sie einer Arbeit nach. Das entspricht einem Viertel (24,1 Prozent) dieser Altersgruppe. 36,4 Prozent der Jugendlichen dieser Gruppe sind noch in der Ausbildung begriffen, 1,9 Prozent, und damit weniger als sonstwo in der Europäischen Union, lernen und arbeiten gleichzeitig. 37,7 Prozent arbeiten. Es verbleiben die besagten 24,1 Prozent (2006: 19 Prozent), die weder lernen, noch arbeiten. In Deutschland lassen sich 27 Prozent der Zwanzig- bis Vierundzwanzig-Jährigen ausbilden, 30,1 Prozent lernen und arbeiten gleichzeitig, 33,5 Prozent arbeiten und bloß 9,3 Prozent machen gar nichts. Ähnliche Zahlen weisen Tschechien, Slowenien, Österreich, Dänemark, Schweden, die Niederlande auf. Schlimmer als in Rumänien ist die Lage nur in Kroatien, Griechenland und Italien, aber überall gelingt es deutlich mehr Jugendlichen als hierzulande, Schule und Arbeit zu verbinden. Spitzenreiter sind die Niederlande, wo 42,1 Prozent der Jugendlichen Zeit finden sowohl für Bildung als auch für einen Beruf. Der EU-Durchschnitt liegt bei knapp 17 Prozent.

Es gibt also in Rumänien 270.000 junge Menschen, die man in die Arbeitswelt integrieren könnte. Wenn man es wirklich wollte. Wenn sie es auch wollten. Denn es ist eine im Grunde freiwillige Arbeitslosigkeit, deren Ursache allein die mangelnde Bildung sein kann. Wenn man natürlich keine Vorurteile bedienen will. Man müsste aber diese Jugendlichen registrieren, sie an Arbeitgeber vermitteln, ihnen Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, in die duale Berufsausbildung investieren, Arbeit fördern, Untätigkeit abstrafen. Inklusive durch Verrringung bis Streichung der Sozialhilfe.

Klar: Kürzt man die Sozialhilfe, könnte ein Teil der Nichtstuenden auswandern. Das wird schwierig: wer nichts kann und nichts gelernt hat, findet auch in Westeuropa nicht so einfach Arbeit. Einige werden sicherlich Rumänien verlassen, einige werden wohl in jene Regionen ziehen, wo es Arbeit gibt, in den Westen des Landes, den Raum Klausenburg oder in die Hauptstadt. Sollte auch diese Chance vertan werden, gibt es kaum eine kurz- bis mittelfristige Lösung für den Arbeitskräftemangel. Wachstum gehört dann zur Geschichte. Die sich bekannterweise als Tragödie wiederholt. Oder als Farce...