Matthias Nawrat und „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“

Über Geschichte, Generationen und Identitäten im heutigen Europa

Matthias Nawrat war einer der Gäste des Internationalen Literaturfestivals in Temeswar.
Foto: Zoltán Pázmány

1979 in Polen geboren, zehnjährig nach Deutschland ausgewandert und dort aufgewachsen, Autor von drei Romanen und mehrfacher Preisträger. Als Gast des Internationalen Literaturfestivals in Temeswar hat Matthias Nawrat auf die Frage geantwortet, wie er zu dem Label steht, das ihm allzu oft aufgesetzt wird: „deutsch-polnischer Schriftsteller“: „Ich werde relativ häufig gefragt, ob ich Pole oder Deutscher bin, in Polen wie auch in Deutschland. Meine Identität ist eine komplexere als das eine Nation abdecken kann. Ich fühle mich sowohl als Pole als auch als Deutscher, manchmal aber weder noch. Ich glaube, es ist eine neue Mischidentität, wie es ja in Europa immer mehr gibt.“

Allerdings hat diese komplexe Identität ihren Niederschlag in seinen Büchern: „Ja, thematisch und sprachlich“, gibt Matthias Nawrat zu. „Ich merke, dass ich möglicherweise an die deutsche Sprache anders herangehe als andere deutsche Autoren, weil es nicht meine erste Sprache ist, weil ich aus einer anderen Sprache auf die deutsche schauen kann. Umgekehrt geht es mir mit dem Polnischen genauso.“

Sein jüngster Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ enthält viel Familienbiographie: „Er beruht zu etwa drei Vierteln auf Begebenheiten, die ich so oder ähnlich in meiner Familie erzählt bekommen habe, aber es ist auch immer wieder vermischt mit Fiktion. Im Roman werden die Geschichten nacherzählt und da stellt sich die Frage, was ist nun wirklich passiert. Was ist Geschichte, was ist erzählte Geschichte, der Roman spielt mit Fiktionen, mit Übertreibungen, mit Absurdem, mit der Frage des Erzählens überhaupt. Inzwischen weiß ich teilweise auch nicht mal selber, was in den Szenen dazu erfunden ist, weil auch die Geschichten, die in meiner Familie überliefert werden, so stark tradiert sind. Auch die dramatischen Geschichten. Mein Opa war in Auschwitz und nach dem Zweiten Weltkrieg war er in den ersten 20 Jahren überzeugter Kommunist. Und da fragt man sich auch, was und wie erzählt er es.“

Ein Familienepos dem heutigen Leser zu vermarkten, ist Matthias Nawrat gelungen: „Zum einen, weil das Buch über eine Zeit erzählt, die immer noch wichtig und interessant ist für die Leser. Zweitens glaube ich, dass man darüber nicht mehr erzählen kann wie direkt nach dem Krieg oder in den Achtzigern. Weil ich zur dritten Generation gehöre, weil ich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren bin, ist mein Zugang zur Thematik ein ganz anderer, über Geschichten aus meiner Familie und aus Büchern. Ich habe selber nur die 80er-Jahre, also nur das Ende der kommunistischen Periode erlebt. So habe ich einen Zugang gesucht, wie ich davon authentisch erzählen kann, während Autoren wie Imre Kertész, die selbst im Konzentrationslager gewesen ist, einen ganz anderen Zugang zur Geschichte haben. Ich habe dann das Konstrukt der Nacherzählung der Erzählung gewählt, um zu verdeutlichen, dass da eine gewisse Distanz besteht, eine zeitliche, auch eine gewisse Problematik. Jede neue Generation muss eine andere Art und Weise finden, um das zu erzählen“.

Unterschiedlich waren die Rezeptionen des Romans in Deutschland beziehungsweise in Polen: „Für die deutschen Leser ist es etwas Exotisches, paradoxerweise, denn, obwohl Polen das Nachbarland ist, wissen viele Deutsche kaum etwas über Polen. Insofern war vieles von den historischen Hintergründen auch unbekannt und interessant; auch die Mentalität, der polnische Humor, um den es da auch sehr stark geht, weil das Buch auch sehr Großvater, um den es geht, und auch die anderen Familienmitglieder erzählen ihre Geschichten mit viel Humor, mit Ironie, das war natürlich etwas für das deutsche Publikum auch interessant, während in Polen das schon bekannt ist. Auch die Verweise auf die osteuropäische und polnische Literatur, derer ich mich bediene, werden schneller aufgegriffen und ich glaube, die polnischen Leser haben da eher darauf geachtet, was Spannendes erzählt wird. Für sie war es auch interessant, wie jemand, der ausgewandert ist, 20 Jahre später ein Buch darüber schreibt, wie der Blick von außen sozusagen auf Polen gerichtet ist und wie die Deutschen auf Polen schauen. Also, ich denke schon dass es verschiedene Interessenperspektiven gab.“

Matthias Nawrat bearbeitet in dem Buch, an dem er gerade arbeitet die Gegenwartsgeschichte und als Hintergrund dient eine komplexe Metropole Europas: „Ich arbeite an einem Roman, der in Berlin spielt und die Biographien vieler Menschen, die in Berlin leben, ins Zentrum nimmt. Da geht es um universale Themen wie Liebe, Tod und die Frage, was ist sozusagen das geistige Fundament Europas, aber auch um konkrete Fragen der Migration und Multikulturalität“. Die Romane von Matthias Nawrat sind noch nicht ins Rumänische übersetzt worden.