Requiem für die Unschuldigen

Das Schicksal einer Lenau-Schülerin in der Revolution

Direkt auf den Fotografen schaut Laura Andreea Negrutiu hier noch als Kleinkind auf dem Schoß ihrer Taufpatin Eva Paul, lächelt ungezwungen und unerschrocken. Foto: privat

Die Gedenktafel beim Eingang der kleinen Lenau-Schule – unsere Blicke verdienen solche Tafeln.
Foto: Zoltán Pázmány

Heute müsste Laura Andreea Negrutiu vor der kleinen Lenau-Schule stehen und ihr Kind abholen, so wie das viele Lenau-Absolventinnen ihres Jahrgangs tun. Oder sie wäre vielleicht nach Deutschland, Kanada oder in die USA ausgewandert, wie so manche ehemalige Klassenkolleginnen, wäre Ärztin oder Lehrerin geworden, wie es die Mädchen vor 1989 geträumt haben. Aber das würde bedeuten, Alternativgeschichte oder kontrafaktische Geschichte zu betreiben, also mit dem Gedanken zu spielen „Was wäre, wenn...“. Denn Laura Andreea Negrutiu ist mit neun Jahren in der Dezemberrevolution ums Leben gekommen. Plötzlich, unerwartet, unverständlich.

„Sie war bei den Großeltern in der Piatra-Craiului-Straße, die Eltern mussten arbeiten, sie waren beide in der Buchhaltung des Comtim-Betriebs beschäftigt, dachten, dass das Mädchen bei den Großeltern am besten aufgehoben sei,“ so erinnert sich Eva Paul, die Taufpatin, die zugleich die Kusine der Mutter ist, an Laura Andreea, die ihr wie eine Tochter nahe gestanden war. Ein Schuss änderte alles: „Das Kind saß zwischen den Großeltern auf dem Sofa, die Rollos waren heruntergelassen, plötzlich gab Laura Andreea keine Antwort mehr. Es waren furchtbare Tage, es wurde noch geschossen, es waren überall Soldaten und Miliz. Es war schwierig, einen Priester und einen Sarg zu finden, einen Blumenkranz konnten wir nirgends kaufen, alles war geschlossen. Ich brachte zwei-drei Blumen mit, die ich zu Hause hatte. Wir fuhren zum Friedhof, wurden an jeder Ecke von den Milizmännern angehalten. Einen Platz hatten die Eltern dank Familienfreunden gefunden. Anfang 1990 wurde Laura dann endgültig auf dem Friedhof an der Cosminului-Straße beigesetzt, wo mittlerweile auch die Ruhestätten ihrer Eltern sind“.

Wer? Wie? Und: Warum?

Denn die Tragödie an einem der letzten blutigen Tage der Revolution hat schließlich die ganze Familie zerschlagen. Zuerst waren es die Vorwürfe, die sich die Großeltern machten: Warum sie und nicht wir? Denn die Wohnung der Großeltern war in eine der oberen Etagen, der Schuss kam, wie das die damaligen Autoritäten nachwiesen, wohl vom Dach des Nachbarblocks! Dann waren es die Vorwürfe, die sich die Eltern machten: Warum haben wir das Kind zu den Großeltern gebracht? Die Beziehungen, die einst die besten waren, zwischen Eltern und Großeltern, erkalteten plötzlich, auch wenn die Schuldigen doch andernorts gesucht werden müssen. Aber so funktionieren wir Menschen, wir versuchen zu verstehen, was nicht zu erfassen ist. „Wir suchen Schuldige in solchen Situationen“, so Eva Paul. Die Tränen kommen auch heute noch, wenn sie die Fotos des Kindes in den Händen hält.

Die eigentlichen Fragen: Wer? Wie? Und: Warum? sind bis heute unbeantwortet geblieben. Am 10. Januar ging der Vater Mircea Negrutiu zur Staatsanwaltschaft und schrieb eine Erklärung in der Hoffnung, eine Antwort auf die Fragen über sein einziges Kind zu bekommen: „Am 23. Dezember 1989 befand sich mein Kind, Negrutiu Laura, neun Jahre alt, bei meinen Eltern, Negrutiu Nicolae und Veturia, in der Wohnung in der Piatra-Craiului-Str. Nr. 1, am VI. Stock. Das Kind befand sich in dem Zimmer, das auf die Straße zeigte, als meine Mutter um 9:30 Uhr Rauch am Fenster entdeckte. Sie wollte das Kind ins andere Zimmer bringen, merkte aber dass es sich nicht bewegte…“ Der Schuss hatte den Hals getroffen, der Tod erfolgte sofort.

Alles hätte anders kommen sollen, müssen

In der IV. C Klasse der deutschen Abteilung der Lenau-Schule von 1989 sprach es sich schon im Dezember herum: „Wir hatten gehört, dass sie gestorben sei, keiner wollte es so richtig glauben. Als die Schule dann im neuen Jahr wieder anfing, kam unsere Lehrerin, Frau Irmgard Târziu, in die Klasse und erzählte uns davon. Alle weinten. Später sind wir an ihr Grab gegangen, alle Mitschüler, und haben Kerzen angezündet“, erinnert sich Aurora Ghirasim, eine Mitschülerin von Laura Andreea Negrutiu, die Lehrerin an der Lenau-Schule geworden ist. Und wie war Laura Andreea? „Ein zurückhaltendes Mädchen, aber sehr beliebt bei den Kollegen. Sie hatte schwarze gelockte Haare, die sie immer kurz trug. Sie saß in der ersten Bank. Sie war eine gute Schülerin, hat gut gelernt. Sie hat den Großeltern sehr nahe gestanden, diese hatten sie immer von der Schule abgeholt“.

Die Großeltern und die Eltern sind ohne jemals eine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen, gestorben, wurden vom Alter oder verschiedenen Leiden dahingerafft, vor allem aber war es der fehlende Trost über einen Verlust, den man nicht erfassen kann.

Warum? Wie? Und: Wer? Es ist ein himmelschreiendes Scheitern derer, die eine Antwort hätten liefern müssen! Oder ein himmelschreiendes Schweigen?

Laura Andreea Negrutiu lächelt selbstbewusst, weil unschuldig, aus dem kleinen Schwarz-Weiß-Foto beim Eingang der kleinen Lenau-Schule, aus der Entfernung der 25 Jahre. Ein bisschen ist es auch ihr Verdienst, dass 2006 eine andere Tafel an die Fassade angebracht werden konnte: „Nikolaus-Lenau-Schule – eine europäische Schule“.