Laudatio auf Prof. Dr. Dieter Simon

Anlässlich der Verleihung des Apollonia-Hirscher-Preises für das Jahr 2016 (I)

Im Hause Morres, wo ich meine Kindheit verbracht habe, gab es zeitweilig bis zu 10 Familienan- und -Zugehörige. Vier Generationen wohnten unter einem Dach, zugegebenermaßen einem großen Dach, als vor etwa 36 Jahren Dieter Simon als Lebensgefährte meiner Tante, Sabine Morres, hinzukam.

Wenn feiner Kaffeeduft, der damals alles andere als alltäglich war, in die Nase stieg, so wussten wir Kinder, es kommt wohl bald Besuch und wir hatten uns – zumindest bei dessen Eintreffen – manierlich zu gebärden. Besuch gab es oft, von nah und fern, jüngere und ältere Gäste, darunter so manche Persönlichkeit des kulturellen Lebens der Zwischenkriegszeit oder deren Nachfahren und Anverwandte. Zu solchen Anlässen war das große Zimmer im besagten Hause, genauer gesagt die Sitzecke mit kreisrundem Furniertisch, drei Sesseln und einem Sofa, alles Biedermeier, Ort der Zusammenkunft. Ein Hauch des alten sächsischen Kronstadts lag in der Luft, der auch für uns Kinder spürbar war und wir schnappten das eine oder andere davon auf, selbst wenn wir das Kränzchen bzw. das Canasta-Kränzchen, das Groß- und Urgroßmutter teils gemeinsam unterhielten, ein wenig störten und von unter dem Sofa die Gäste an den Waden kitzelten – das letzte Mitglied dieser Runden, Erna Stetzky, ist unlängst verstorben.

Für meinen Bruder und mich – wir waren noch keine 10 Jahre alt – war Dieter Simon zunächst ein interessanter Neuzugang. Das lag nicht etwa an einer wie auch immer gearteten Neigung zu Sport, der uns Jungs damals in jeder Hinsicht beschäftigte.

Segelabenteuer auf dem Snagov-See

Dazu sei eine Geschichte gestattet: Nach dem viel zu frühen Tode unseres Großvaters im Frühjahr 1983 waren wir zum Sommeranfang in großer Familiengesellschaft zum Snagov-See mit Großvaters Segeljolle aufgebrochen, unausgesprochen wohl auch als Erinnerungstour. Allein der älteste der Enkel, Jürgen Einschenk, hatte das Segeln etwas umfassender vom Großvater erlernen können. Und so stachen Jürgen, seine Schwester Bärbel, Sabine und Dieter in See – und kamen nicht wieder. Ein stürmisches Gewitter war aufgezogen.
Sorgenbeladen bestieg eine Gruppe der Zurückgebliebenen einen Vergnügungsdampfer, der touristische Rundfahrten anbot. Ich gehörte auch dazu und wir hofften vom Schiff aus, die Vermissten sichten zu können. Tatsächlich, nach einigen Metern Fahrt schoss unser Segelboot heran und vorbei. Es gelang gerademal, sich etwas zuzurufen und zu winken. Dieter winkte auch und lächelte, doch im selben Moment drehte der unruhige Wind mal wieder, ein unvorhergesehenes Wendemanöver war die Folge und der Großbaum stieß an Dieters Kopf – sein erstarrtes Lachen sehe ich auch heute noch in der Erinnerung. Es war für Dieter nicht der einzige kritische Moment an jenem Tag – wen mag es also verwundern, dass er seither nicht mehr an Bord gegangen ist?

Das Interessante an Dieter für uns Jungen, die wir noch keine 10 Jahre alt waren, war etwas ganz anderes: man konnte ihn alles, aber auch wirklich alles fragen, was man wissen wollte. Stets gab es geduldig vorgetragene, sachlich überzeugende Antworten, die zu Nachfragen einluden. Ein „Warum?“ folgte dem nächsten. So kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste, es konnte bei einem Brachiosaurus beginnen und beim Untergang des Römischen Reiches enden – ganze Abende vergingen wie im Flug mit Säbelzahntigern, Mammuts, Insekten, Viren und Bakterien, Inquisition und Reformation; der schwache Gasdruck im Spar-Herd, der den Rücken unseres Frageopfers mehr schlecht als recht wärmte, war so schnell vergessen. In der Rückschau bin ich sehr dankbar für diese Abende, da sie mir einen ersten Eindruck von der Faszination des Wissens und des wissenschaftlichen Denkens gaben. Doch woher kam dieses geballte Wissen?

Kindheit in Kronstadt

Der am 5. Mai 1946 in Kronstadt im Depner-Sanatorium geborene Dieter Karl Simon wurde am 23. August 1946, dem Tag des Zinnenbrandes, getauft. Freilich steht im Ausweis nicht Karl sondern Carol, was dem Standesbeamten Anlass war, die Familie des Royalismus zu bezichtigen. Vater Stefan nahm’s aber gelassen, Folgen hatte es keine. Bei „Dieter“ wird der Funktionär sich seinen Teil gedacht und buchstabiert haben. Wenn einmal eine wissenschaftliche Arbeit über die Präferenzen der Siebenbürger Sachsen bei der Vornamenswahl geschrieben werden wird, also über das leidige Thema, dass aus Johann mal János und mal Ioan wurde und wie man darauf reagierte, so mag auch diese kleine Schilderung mit einfließen.

Vater Stefan Simon stammte aus einer berglanddeutschen dörflichen Handwerkerfamilie aus Câlnic, einem Vorort von Reschitz, war katholisch und war eigentlich nur infolge der Weltkriegsereignisse nach Kronstadt gelangt: die Akademie für Wirtschaftsstudien (Înalta Academie pentru studii Economice) war 1940 infolge der Teilung Siebenbürgens zwischen Ungarn und Rumänien durch das Zweite Wiener Diktat von Klausenburg nach Kronstadt übersiedelt und als Absolvent eines Temeswarer Handelslyzeums stand Vater Stefan eigentlich nur diese Studienoption offen.

In Kronstadt lernte Stefan Anneliese Grempels kennen und lieben. Sie stammte aus einer v.a. in Neustadt und Heldsdorf beheimateten Burzenländer Lehrer- und Predigerfamilie ab, die sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen lässt, inklusive gemeinsamer Vorfahren mit dem Komponisten des Siebenbürgenliedes, Johann Lucas Hedwig.

Jung heiratete das Paar, zwischen ziviler und kirchlicher Trauung lag der 23. August 1945. Dieter, der Erstgeborene, war schneller da als Vaters Abschlusszeugnis. Es musste improvisiert werden, um der jungen Familie ein Einkommen zu sichern. Es gelang, Arbeit und Abschluss bekam der Vater unter einen Hut, 1948 folgte der zweite Sohn, Peter.
Für Dieter folgte bald der Kindergarten in der Neugasse – er erinnert sich, dass er zu Doro- und Roswithatante sehr gerne ging, da es dort immer etwas Neues zu entdecken gab. Die Grundschule (Kl. 1-3), die Dieter besuchte, war als eigenständige Institution damals im Saguna-Gebäude untergebracht. Die Klassen 4-7 derselben Schule (Sc. medie mixta 2) folgten am Honterus-Hof, der damals Curtea Bisericii Negre hieß, und zwar im heutigen B- und C-Gebäude. In den Sommerferien zur 8. Klasse 1960 wurde die deutsche Schule mit dem Saguna (Sc. medie mixta 1) vereinigt, die fortan als Scoala medie mixta 1 neben der rumänischen eine deutsche Abteilung hatte, die aufgrund ihrer Zuständigkeit für die gesamte Stadt zwei Klassenzüge hatte. Wichtiger als der äußere organisatorische Rahmen, der als gegeben hinzunehmen war, ist festzuhalten, dass unser heutiger Preisträger mir mehrfach versichert hat, dass er sehr gerne in die Schule ging, jeder erste Schultag war ein Tag der Freude, der Vorfreude auf neues Wissen. Es waren v.a. die Lehrkräfte des „Honterus“, die, auch wenn es die Honterus-Schule nominell gar nicht mehr gab, in der Lage waren, den Geist des humanistischen umfassenden Bildungsgedankens unseres Reformators in der neuen Zeit zu beheimaten, ihn weitgehend frei zu halten von ideologischer Durchdringung, so dass in diesen Jahren von einer späten Blüte dieses Geistes gesprochen werden kann. Nicht unwesentlich für das Gelingen dieses Drahtseilaktes war die Tatsache, dass noch etliche Lehrer einen Horizont hatten, der über den engen Rahmen der Volksrepublik Rumänien weit hinausreichte und der auf Studienaufenthalte im Ausland, meist in Deutschland sowie auf reichlich Lebenserfahrung zurückging. Den besagten Horizont unterstreicht unser Preisträger in der Rückschau als den wichtigsten Punkt hinsichtlich der Atmosphäre seiner Schulzeit, zumal diese auch auf die jüngeren Lehrkräfte noch über Jahre hinweg übersprang – ganz bewusst vermeide ich es, hier Namen zu nennen, denn gewiss würde ich jemanden vergessen.

Entscheidender Besuch im Temeswarer Naturhistorischen Museum

Dieter Simon benützt mit Blick auf seine Schulzeit für seine Person das Bild eines Schwammes, der alles aufsaugte, was ihm an Wissen und Bildung geboten wurde. Seine Zuneigung gehörte aber v.a. dem Deutsch-, dem Geschichte- und dem Biologieunterricht. Letzterer hat bekanntlich das Rennen gemacht, was die Berufswahl anbelangt. Dazu haben freilich die langjährige Biologielehrerin des Honterus, Herta Lang (Spitzname Amöbe), sowie der damals junge Biologe Heinz Heltmann beigetragen. Die Entscheidung der Studienwahl fiel aber woanders und zwar im Rahmen eines Besuchs des Naturhistorischen Museums in Temeswar, das zum Schlüsselerlebnis wurde. Die Vogel- und Eiersammlung des Museums hatten es Dieter Simon einfach angetan, ab da gehörte der Ornithologie der erste Platz in der Interessenshierarchie. Umgesetzt wurde die neue Interessenslage durch das Studium der Forstwissenschaften, wofür es volle Unterstützung der Familie gab.

Das Schwammprinzip der Wissensaneignung kam nicht nur erneut zum Einsatz und führte dazu, dass Dieter Simon als Jahrgangsdritter 1969 abschloss, sondern es entfaltete eine neue Stufe: der Lehrkörper der Kronstädter Forstwissenschaft, die 1948-1953 aus der Zusammenziehung der universitären forstwissenschaftlichen Institute des Landes in Kronstadt hervorgegangen war, hatte eine ähnliche Zusammensetzung und durchaus auch einen vergleichbaren Horizont, wie oben für die „Honterusschule“ skizziert, allerdings beherrschte niemand die deutsche Sprache. Infolgedessen wandelte sich Dieter Simon zu so etwas wie einem ad-hoc-Übersetzungsdienst für die Professorenschaft: er las in deutschen und englischen Fachbüchern, sprach die Inhalte aber rumänisch aus. Die Professoren machten Notizen.

Jenseits der umfangreichen Inhalte, die Dieter Simon sich auf diese Weise aneignen konnte, hatte das auch den hilfreichen Nebeneffekt, dass sein Rumänisch zur Perfektion gelangte. Denn dies ist vielleicht der einzige „Vorwurf“, den man der Honterusschule bis vor ein paar Jahrzehnten machen konnte: die Zweisprachigkeit saß nicht ganz, womit man der Forderung von Johannes Honterus nach Beherrschung der beiden Sprachen, womit damals vor 474 Jahren allerdings das klassische Griechisch und Latein gemeint waren, nicht ganz genügte – welch ein Kontrast zu heute in Sachen Sprachbeherrschung am Honterus!

Der Verbleib am Forstwissenschaftlichen Institut, also der Einstieg in den universitären Lehrbetrieb, war Dieter Simon nicht vergönnt, die unmittelbare Studienfortsetzung als Doktorand war damals noch etwas ungebräuchlich und wurde zudem auch noch ein Opfer universitärer Grabenkämpfe, die anscheinend an keiner höheren Schule innerhalb der Professorenschaft fehlen dürfen. Es folgten daher also sieben Jahre der reinen Praxis beim Entwurfsdienst der Abteilung Forsteinrichtung bei dem seit 1953 in Kronstadt bestehenden außeruniversitären Forstwissenschaftlichen Forschungsinstitut in der Closca-Gasse.

Doktorarbeit über die Rolle der insektenfressenden Vögel

Konkret ging es dabei um Forsteinrichtung, also Forstparzellenfestlegung, Beschreibung der Parzellen und wintersüber um die Ausarbeitung von Waldbewirtschaftungsplänen. Den Sommer über bedeutete das täglich ausgedehnte und anstrengende Fußmärsche durch die Wälder und Übernachtung in Waldarbeiterunterkünften. Was es für einen Erfahrungsschatz bedeutete, kontinuierlich in der Praxis zu stehen, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden – desgleichen will ich darüber schweigen, was es bedeutete, wenn ab Herbst die Zahl der Waldarbeiter in den Unterkünften zunahm, was diese Leute für Schuhwerk hatten, wie dieses roch und was sie vom Schnarchen so verstanden.

Parallel war es Dieter Simon dann doch möglich, seine Promotion zu betreiben, sie wurde 1976 mit der Verteidigung seiner Doktorarbeit über „Die Rolle der insektenfressenden Vögel nach Massenvermehrungen der Schädlinge im Wald“ abgeschlossen – da sind sie also wieder, die geliebten Vögel! Mit 30 Jahren war Dieter Simon der jüngste Doktor in seinem Fachbereich und gewiss unter den jüngsten in ganz Rumänien.

War der Bildungs- und Wissenschwamm damit vollgesogen? Wenn man forscht, vergisst man die Zeit, das geht mir persönlich auch oft so, wenn ich einer historischen Fragestellung nachgehe. Endlos könnte man weiter machen, neue Zusammenhänge entdecken und sich an ihrer Faszination erfreuen und dabei die Zeit vergessen. Doch Wissenschaft ist kein Selbstzweck, sondern dient der Beantwortung von Fragen und der Weitergabe der Erkenntnisse, im Idealfall an alle, in allgemeinverständlicher Sprache. Für den Forschenden heißt dies Vorlegen und Veröffentlichen der Forschungsergebnisse. Der Moment, wenn eine große Arbeit abgeschlossen ist, sie als Werk vor einem steht und ab da ein Eigenleben entfaltet, wird automatisch für den Verfasser zu einem Moment des Innehaltens und der Selbstbetrachtung. 1976 sollte für den frisch gebackenen Doktor Dieter Simon ein solcher Moment werden. Fragen nach dem gesellschaftlichen und privaten Leben kamen auf. Aber auch beruflich sollte ein Neuanfang her.
 

(Fortsetzung folgt)