Offenlegung (II)

Es fehlte das Radio. Die Apparate hatten wir, und alle Volksgenossen, abgeben müssen. Einen Philips Volksempfänger, karge zwei Wellenlängen, hatte unsere Mutter - auf Teufel komm heraus - in einen Diwanpolster versteckt. Die Antenne war im Schornstein angebracht. Allein der Rauchfangkehrer Adolf Meister wusste davon, Finger auf dem Mund. Ich hatte einen Kristallempfänger gebastelt. Das hatten wir im Fliegerjungzug, Fähnlein drei, gelernt.

Mit dem ich Verwirrendes erfuhr: Der Führer hatte die Wolfsschanze geräumt. Die Russen standen vor seiner Tür. Und später anderes, das ich kaum verstand und stotternd meinem Vater vortrug. Der sagte gefasst: „Komm mein Sohn, du bist nun groß!“ Er führte mich in sein Arbeitszimmer. Ich spürte, während ich im Ledersessel versank: Dies wird ein Gespräch zwischen Männern, unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Er wusste Bescheid! Stalin hatte im Dezember von der rumänischen Regierung 7500 Volksdeutsche zur Aufbauarbeit angefordert, Männer zwischen 17 und 45, Frauen zwischen 18 und 30. Bukarest hatte abgelehnt: Man brauche diese tüchtigen Bauern und Handwerker im Endkampf gegen Deutschland und Ungarn. Stalin ließ mit sich nicht reden. Entscheidend schien dem Vater, dass der König sich verwahrt hatte: Auch die Deutschen des Landes seien rumänische Staatsbürger. Und es sagte, der Vater: „Dies trifft uns alle und könnte der Untergang unseres Volkes sein, der Siebenbürger Sachsen. Und der anderen Deutschen hier auch. Doch unsere Familie betrifft es nicht.“ Die Mutter, geboren 1912, sei drei Jahre über das Alter hinaus. Und er habe als Soldat den Eid auf den König geleistet und somit schütze der König ihn. „Dazu bin ich in ein paar Tagen sechsundvierzig.“ Nicht gebot er mir, zu schweigen. Doch als mein Vater sich erhob und zu mir trat und mir die Hand reichte - ja, das genügte. Und leidvoll erfuhr ich: Ein Geheimnis macht einsam.

Das Verflixte war die Sache mit dem Eid.  Überhaupt, woran sich festhalten? Der Großvater Goldschmidt, der zwei Kaisern und drei Königen die Treue geschworen hatte, behauptete, der Eid binde allein dich, dich allein, unbesehen des Erwählten. Deine Treue, deine Ehre steht auf dem Spiel! Es heißt: Treubruch. Der Vater wiederum nahm den Mächtigen ins Gebet, auf den man den Eid abgelegt hatte. „Der König hat mich zu schützen!“ König von Gottes Gnaden und durch den Willen des Volkes, kann die Majestät sein Wort nicht brechen. Der Führer war von der Wolfsschanze ausgerückt, hatte kampflos das Feld geräumt. Wo doch in seinem Munde der Endsieg todsicher war. Wortbruch. Alles bricht! Und ich und der Führer? Mein Eid… Ich beschloss, mich nicht konfirmieren zu lassen.

Am Dreikönigstag war die Kirche wieder zum Bersten voll. Umgetrieben von bösen Vorahnungen und grusligen Gerüchten glaubte niemand Pfarrer Stamm, was er in seiner Predigt verhieß: „Es ist Epiphaniaszeit, die geheiligte Zeit nach Weihnachten, wo der Lichtglanz Gottes vollauf in Erscheinung tritt; die Finsternis vergehet, das wahre Licht scheint jetzt. Und über diejenigen, die im Tal der Todesschatten sitzen, geht ein großes Licht auf! Vergesst nie: Die drei Weisen kehrten, nachdem sie das Christkind in der Krippe angebetet haben, auf einem anderen Weg um.“ Dieser andere Weg, ohne Stern! Ein tiefes Aufseufzen ließ die Kerzen erbeben! „Todesschatten ja! Licht nichts.“

Doch noch war vieles beim Alten. Die orthodoxe Kirche feierte pompös die Taufe Jesu im Jordan. Traditionsgemäß warf der Erzbischof, gewandet wie byzantinische Kaiser, drei Holzkreuze in die Aluta. Kanonen hatten am Morgen das Eis aufgebrochen. Auf Befehl des Obersten Traian Decebal Cosimovici, der sich in der Paradetracht eines Ritters des Michaelsordens auf einen Zierdegen stützte, sprangen halbnackte Soldaten in den Fluss, bekleidet bloß mit einer langen Unterhose, und schnappten sich die Kreuze. Die Kapelle intonierte die Königshymne. Das Volk auf der Brücke klatschte. Die glitzernden Popen schaukelten Fontänen von Weihrauch ins All. Unser Vater, Gardemaß, war in der Galauniform dabei, unnahbar, ja entrückt. Wir Brüder sausten auf Schlittschuhen weit weg über den Fluss.

Zu spät!

Schlagartig am 13. Januar wurde landesweit alles ausgehoben, was in den Listen der Deutschen Volksgruppe als Mitglieder geführt wurde und sich als volksdeutsch bekannte. Das Thermometer zeigte -28° Celsius. Um 5 Uhr morgen wurden Männer und Frauen von russischen Soldaten und rumänischen Gendarmen aus den Betten geholt. Versteckte sich jemand oder floh oder hatte vorher Wind bekommen, wurden andere weggezerrt, ältere, jüngere. Die Zahl musste stimmen. Die 16jährige Tochter Angelika meines Amtsvorgängers in Rotberg erfror schon auf der zweiwöchigen Fahrt im Viehwaggon. Doch selbst die Toten kamen im Donbass an. Die Zahl musste stimmen.

Unseren Vater holte ein Kommando zwei Wochen später ab, eben: die Zahl musste stimmen. Es war der 2. Februar, sein 46. Geburtstag. In voller Uniform wurde er aus seinem Büro in der Festung abgeführt. Die Soldaten, die ihm begegneten, salutierten. Er wurde in der Kaserne gefangen gesetzt, wo die deutschen Lehrtruppen vormals ihr Hauptquartier hatten. Die Russische Elegante, mit Rum besprengt, seine Lieblingstorte, blieb unberührt, verrottete.

In der Küche tröstete unsere Haushälterin Sophie meine Mutter auf Ihre Art: „Schrecklich, unser herzensguter Herr Felix. Wer isst nun die Torte? Aber sie sollen wissen, gnä‘ Frau, das ist noch nicht so schlecht!“ Wir wurden aufgeklärt, was sie im Dienstbotengottesdienst gehört hatte. Verschleppen würden die Russen als nächstes die Jungen von zehn Jahren aufwärts. „Der arme Pub“, und sie streichelte mit ihrer fettigen Hand meine Backe, „noch nicht konfirmiert, und schon zu die Russen. Ich hab ja immer gesagt: Nemht‘s euch z‘samm, Puben, weh euren Pizziknochen, wenn die Russen kommen.“ Uns Knaben, die wir nutzlos herumstanden, schickte die Mutter Eislaufen. Mit mir würde sie gegen Abend den Vater aufsuchen. Zivile Kleidung war gefragt. Ein russisches Buch machte sich gut, und warme Socken. Die toten Seelen Gogols boten sich für diesen Fall eher an als Ein Adelsnest von Turgenjew.

 Auf dem Eislaufplatz im Burggraben wartete Agathe Ursula Sonnleitner auf mich, bei einem Nebenarm, verschämt wie immer. Sie war mein Schatz seit langem. Die große Kinderliebe war aufgekeimt, als ich ihr, II. Klasse, bei der Buchhandlung Eisenburger half, die Titel zu entziffern. MEIN KAMPF war ihr geläufig. Das eiserne Jahr, Volk ohne Raum, Hitlerjunge Quex, das war zu schwer für die kleine Seele. Ihr Vater war als Amtsleiter der Deutschen Volksgruppe gleich nach dem 23. August in einer Nacht ausgehoben und ins Lager bei Caracal geschafft worden. Sie, die Älteste von vier Geschwistern, knapp zehn, hatte ihm die Sachen gepackt. Die Mutter stand wie gelähmt.

Ich zeigte auf die Burg vor unseren Augen: „Sie haben meinen Vater geholt!“ Agathe sagte: „Ich weiß!“ Was wusste sie? Schon das mit meinem Vater. Oder nur das mit ihrem Vater? Ich fragte nicht. Sie ist tot. Als ich mich mit ihr zwischen Weiden verbergen wollte, streifte sie die Fäustlinge ab, nahm feierlich meine Hand in ihre heißen Hände, bis auch meine Hand glühte. Darauf schubste sie mich auf die große Eisfläche. Wo Dr. Suciu-Sibianu wie eh und je seine Pirouetten drehte und gewagte Sprünge vollführte, wo wie gestern und vorgestern die oberen Schüler vom rumänischen Lyzeum Radu Negru in Bogenschleifen mit den Schülerinnen vom Mädchengymnasium dahinschwebten und wo die ungarischen Jungen wie schon immer gegen die Rumänen antraten im Kampfspiel Der schwarze Mann. Und sagte, Agathe Ursula, zu Weihnachten zehn geworden: „Heute darfst Du mich übers Eis ziehen. Es ist mir wurscht, was die Leute über uns reden!“ Wir verschwanden im Gewusel der Schicksalslosen.

Am Abend in der Kaserne ließen die Bewacher uns mit dem Vater ungehindert reden. Nach Herzenslust, das kann man wohl so nicht sagen. Dort wartete bereits die Ordonanz, der Bursche Vasile. Er hatte den Auftrag, die Uniform seines Offiziers in der Festung beim Militärkommando abzuliefern. Er legte die Kleidungsstücke mit einer Fürsorglichkeit zusammen, als gelte es eben nur für diese eine Nacht bis zum nächsten Morgen. Er küsste seinem Vorgesetzten die Hand, während die Tränen in seinen Schnurrbart rollten. Dann richtete er sich militärisch auf, salutierte vor dem Vater in Zivil, und ging, ging dahin im Paradeschritt. Unter dem steifen Arm klemmte in Zeitungspapier gewickelt die Uniform des Königs. Es war die letzte Nummer SIEBENBÜRGISCH-DEUTSCHES TAGEBLATT  vom 11.IX.44.

Wir hielten uns tapfer, meine Mutter und ich - und der Vater ebenso, bereits in fremdem Land. Keine Klage, kein falsches Wort blieben zurück, keine Träne trotz der zugeschnürten Kehle. Contenance hatte der Großvater angemahnt. Ich erfuhr, dass der russische Platzkommandant Oberst Gavril Rudenko den Entlassungsschein unterschrieben habe. Unrecht und Willkür werde in der Roten Armee streng geahndet. Ein gut geschmierter Gewährsmann würde den Schein noch heute zu uns nach Hause bringen. Morgen früh würde meine Mutter ihren Mann abholen. Sie habe bereits den Kutschschlitten bestellt und hier mit dem Offizier vom Dienst verhandelt. Trotzdem, wer weiß? ‚Mit des Himmels Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten‘, sagte meine Mutter zögernd. Und ich zitierte aus meinem frischen Büchlein der Sinnsprüche: ‚Es harren unser im Erdenschoße, die heiteren und die bitteren Lose!‘

 Die Eltern machten aus - um Gottes willen: Musste man das Gefasel der Sophie ernst nehmen? Sollten wir später alle deportiert werden, so würde die Mutter jeweils in jeder Stadt in der Leninstraße Nr. 3 eine Nachricht hinterlassen. Ebenso der Vater. Es gäbe in der Sowjetunion keine Stadt ohne Leninstraße. Und keine Hausnummer drei in der Straße Lenins? Gelacht. Der Vater legte mir die Hand auf den Scheitel und sagte: „Du bist der Älteste und du bist der einzige Mann im Haus! Sei der Gertrud eine Stütze!“ Und nun erinnere ich das letzte Wort, das der Vater offenlegte, für Jahre, es widerhallt bis heute: „Nicht nur jammern darüber, was man dir angetan hat, sondern begreifen immer wieder, was du anderen an Leid zugefügt hast.“

Als wir früh am anderen Morgen im Schlitten mit Schellengeklingel bei der Kaserne vorfuhren, war der Vater bereits zum Bahnhof eskortiert worden. Zu spät.

 Der Kutscher im schwerblauen Wintermantel mit Goldknöpfen gab den Pferden die Peitsche. Die Hufe der Pferde schlugen Funken aus der Eisbahn. Ihre Leiber dampften. Der Schlitten raste dahin, kein Zigeunerkind konnte sich mit den Händen an die Rückwand klammern und sich barfuß mitschleifen lassen. Wir wurden in den rotsamtenen Plüschbänken hin und her geschleudert. Zu spät!

Ein Kordon von Rotarmisten sperrte den Bahnhof ab. Eiskalt schien die Sonne. Eine Sonne mit Zähnen, sagt der Rumäne: ‚Soare cu dintzi!‘ Meine Mutter konnte ihrem Mann noch mit dem Entlassungsschein zuwinken. Er nickte. Dann wurden die Schiebetüren des Viehwaggons geschlossen. Es war die zweite Lese, die nach Russland verfrachtet wurde. Es waren diejenigen, die herhalten mussten für solche, die sich versteckt hatten. Grauvermummte Mütter, die ihre zu jungen Töchter und Söhne von den Dörfern herbegleitet hatten auf dem eigenen Pferdewagen, flankiert von Polizisten und russischen Soldaten, Bauersfrauen im schwarzen Umschlagtuch, die ihren Ehemännern vor dem Altar Treue geschworen hatten, bis dass der Tod sie scheide - sie stimmten Klagelieder an im klobigen Dialekt. In denen sich der Satz wiederholte: „Off wat mer erwacht sen! Auf was wir erwacht sind!

Auf was wir erwacht sind.

Rothberg, auf dem Pfarrhof, Januar 2015