Thymian, Zypressen und roter Sand

Der provenzalische Sommer ist ein Fest für die Sinne

Im Juli blüht der Lavendel im Tal des Toulourenc.

Die alten Ockersteinbrüche bei Roussillon: heute ein beeindruckendes Freilichtmuseum

Ein wütender Stier und staunendes Publikum bei der „Fęte taurine“.
Fotos: die Verfasserin

Vorfreude hängt schon seit Wochen in der Luft und wir können es kaum erwarten unser Zelt im Süden aufzuschlagen. Das Vergnügen an der Reise mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV wird aber etwas getrübt, als wir in Avignon auf dem Bahnsteig patrouillierende Soldaten mit Maschinenpistolen sehen: Frankreich reagiert auf die Terroranschläge. Zum Glück scheint in der Provence eine prächtige Sonne, sodass wir die bedrückende Atmosphäre schnell wieder vergessen.

Unser Ziel liegt nordöstlich von Avignon, im Departement Vaucluse. Wir fahren mit einem weinroten, gemieteten Fiat 500 aufs Land, zum Fuße des mächtigen Mont Ventoux. Auf der Nordwestseite des kahlen Bergs, der unter Radsportlern und Tour-de-France-Fans ein Begriff ist, schlagen wir auf einem Naturgrundstück von Freunden unser Zelt auf. Die Gegend ist landwirtschaftlich geprägt, man fährt vorbei an Feldern voller Sonnenblumen und Olivenbäume und sieht braungebrannte Bauern, die unter der prallen Sonne arbeiten. Abseits der abgetretenen Wege lernt man malerische Weiler kennen und findet ursprüngliche Gutshöfe aus hellem Stein, die sogenannten „mas“.

Da, wo unser Zelt steht, gibt es keine direkten Nachbarn und keinen Handy-Empfang. Unser Hügel ist vollkommen einsam, wir genießen einen fabelhaften Ausblick auf eine spektakuläre Felswand, die zum Ventoux gehört. Hier verbringen wir wunderbare Stunden mit Sonnenbaden und dem Zählen vorbeieilender Bauschwolken, unternehmen lange Spaziergänge durch Weinberge und Kirschbaumplantagen. Die Nächte sind kühl, der Sternenhimmel unermesslich weit. Man hört nur den leichten Wind über den Baumwipfeln, hie und da ein Käuzchen oder die leisen Rufe der Glockenunken, einer Krötenart. Eines Nachts weckt uns ein vergnügtes Wildschweingrunzen aus den Brombeerbüschen – aber zum Glück kommt es dann doch nicht zu einem näheren Kennenlernen.

Tagsüber ist es sehr heiß, es riecht nach Thymian und die Zikaden singen solange die Sonnenstrahlen ihre Äste streicheln – die scheuen, gut getarnten Tiere lieben die Mittagsstunden und machen dann besonderen Krach, man bekommt sie jedoch selten zu Gesicht. Häufig hingegen sieht man kleine Skorpione, und einmal entdecken wir eine hellgrüne, zerbrechliche Sonnenanbeterin, die mit ihrem bohnenförmigen Körper elegante Runden auf dem Zeltdach dreht. Auf unserem Hügel besuchen uns zudem zwei der größten Käfer Europas: ein Hirschkäfer mit respektablem Geweih und ein elfenbeinschwarzer Eichenbockkäfer mit langen, runzligen Fühlern. Der Ventoux und seine Ausläufer sind ein besonderes Habitat für Pflanzen und Tiere – große Teile der Gegend stehen unter Naturschutz.

Das Wetter kann selbst im Hochsommer recht wechselhaft sein: matte Nebelhüllen steigen innerhalb von Minuten vom Gipfel herab, es regnet dann Stunden oder Tage, und wenn die mächtigen Mistralböen südwärts rasen, versteckt man sich am liebsten für eine halbe Woche im Schlafsack, damit man nicht hinweggefegt wird.
Die Krönung aller Genüsse ist das provenzalische Essen. In der wenige Kilometer entfernten Kleinstadt bestellen wir gerne eine „pizza tartiflette“ mit Reblochon-Käse, Kartoffeln und Speckstreifen, oder eine „assiette végétarienne“, einen kräuterreichen Teller mit kandierten Auberginen, Tomaten-Concassée, Zucchinifondue und Oliven. Wir essen Quiche lorraine, Entenlebercreme auf Toast oder frische Feigen mit Ziegenkäse. Zum Kaffee im Bistro gibt es zwischendurch ein erfrischendes Glas „menthe ŕ l’eau“, einen knallgrünen Pfefferminzsirup mit eiskaltem Wasser. Die Rotweine aus dem Rhônetal („Côtes du Rhône“, „Côtes du Ventoux“) haben wir zu unseren Lieblingsweinen gekürt. Zudem kaufen wir begeistert auf dem Wochenmarkt ein: hier werden Lavendel- und Rosmarinhonig, gereifter Schafs- und Ziegenkäse, „Tapenaden“ (Brotaufstriche mit Oliven und Anchovis), Wildschwein- und Fasanenwürste, Knoblauchzöpfe, duftige Melonen und das regionaltypische Mandelkonfekt „Calissons“ angeboten.

Je mehr Zeit wir hier verbringen, desto wacher werden die Sinne. Wetter, Natur, Luft, Farben lassen aufmerksamer werden für Details – und so wiegt schon der Besuch einer schlichten Steinkapelle mit einem blühenden Rosenbusch vor dem Eingang wie der Besuch einer gotischen Kathedrale.
In der Umgebung gibt es sehr viel zu entdecken: wir besichtigen die Chapelle Notre Dame d’Aubune über den Weinbergen von Beaumes-de-Venise und das Zisterzienserkloster Notre-Dame de Sénanque bei Gordes, umgeben von Zypressen und Lavendel. Ein beeindruckendes Naturerlebnis ist der Ausflug in den Osten der Provence, wo sich der Fluss Verdon spektakuläre Schluchten durch den Kalkstein der Voralpen gebahnt hat. Die steilen Abgründe sind zwar nichts für Menschen mit Höhenangst, aber der Blick auf den „Grand Canyon“ mit dem smaragdgrünen Wasser ist jede Selbstüberwindung wert. Die „Dentelles de Montmirail“, Bergkämme mit zerklüfteten Spitzen zwischen Carpentras und Vaison-la-Romaine, wirken dagegen fast bescheiden, sind aber ebenso schön. In Brantes, einem winzigen Dorf, das am Fels zu kleben scheint, entdecken wir eine Töpferei und ein Café, die von einem Künstlerpaar betrieben werden, und erfreuen uns ein Stündchen am leckeren Nusskuchen und dem bezaubernden Ausblick.

In L’Isle-sur-la-Sorgue besuchen wir eine Kirche mit barocker Dekoration aus dunkelblauem Marmor, Goldornamentik und Holzschnitzereien, dann schauen wir uns ein paar Antiquitätenläden an, von denen es hier rund 350 gibt. Sie bieten neben alten Straßenschildern, Geschirr aus längst geschlossenen Restaurants und einer Vielfalt an Pastis-Gläsern auch viel neuen Kitsch an. Ein Fest fürs Auge ist das Ockermuseum („Le sentier des ocres“) bei Roussillon, ein Freilichtmuseum in dem man durch alte Ockersteinbrüche wandern und sich an der flammend-orangenen Erde und den dunkelgrünen Pinien sattsehen kann. Selbst der Parkplatz sieht aus wie der Garten Eden: im Abendlicht, unter Olivenbäumen, wälzen sich freudig ein paar Spatzen im rotleuchtenden Sand.

Als wir in einer charmanten Gemeinde am Ventoux das Werbeplakat für die „Fęte taurine“ („Stierfest“) sehen, denken wir zuerst an eine Art Rindermarkt oder eine Parade mit Stieren. Wir staunen nicht schlecht, als wir den abgeriegelten Hauptplatz erreichen. Hinter Gittern werden kräftige, schwarze Camargue-Stiere auf ein Dutzend mutiger Männer losgelassen: das Spiel heißt „encierro“. Dabei werden die Tiere mit einem Speer gereizt und in die „Arena“ geschickt, wo die Männer sie provozieren und vor ihnen her laufen – archaisch anmutende Männlichkeitsrituale, die auf uns befremdlich wirken. Das ganze Dorf ist versammelt, Eltern tragen ihre Kinder auf den Schultern, eine Musikkapelle spielt schwungvoll Evergreens. Einer der Stiere stößt wütend seinen Kopf zwischen die Gitterstäbe, auf der anderen Seite weicht ein Vater mit seinem Kleinkind nicht einmal einen halben Meter zurück. Sanitäter gibt es keine weit und breit; Angst, dass etwas schief laufen könnte, kennt man hier offenbar nicht. Kulturell sind wir wohl näher an Sevilla als an Paris, jedenfalls überfordert uns die Tierquälerei und wir beschließen spontan Vegetarier und Tieraktivisten zu werden. Ein Vorsatz, der bis zum nächsten leckeren Entrecôte anhält.

Schade, dass Ferien immer so schnell vorbei sind: kaum haben wir uns hier eingelebt, müssen wir unser Zelt schon wieder einpacken. Unsere erste Station auf der Rückfahrt ist Avignon, eine idyllische Stadt mit mittelalterlichem Kern, dicker Stadtmauer, einladenden Bistros und dem berühmten steinernen Papstpalast. Doch der urbane Lärm und das Gewusel der zigtausend Besucher, die für das internationale Theaterfestival angereist sind, lassen Avignon anstrengend wie eine Großstadt wirken – und Großstädte haben wir diesmal ganz sicher nicht vermisst.