Von Hochleistung, Narben und Freiheitsliebe

Gedanken zu Hans Bergels „Glanz und Elend der Siebenbürger Sachsen“

Nicht jede(r) weiß, dass es ein Siebenbürger war, der für Mehmed II. die Kanonen baute, mit denen Konstantinopel besiegt wurde. Oder dass der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz Provinzialkanzler Siebenbürgens werden wollte und der Schweizer Medizinreformer Paracelsus hierzulande forschte. Oder dass der in Karlsburg geborene Ignaz von Born als Vorbild für den Sarastro in Mozarts „Zauberflöte“ diente. Diese und sehr viele andere historische Figuren stellt Hans Bergel eindrücklich in seinem neuen Buch „Glanz und Elend der Siebenbürger Sachsen. Rückblicke und Ausblicke eines Beteiligten“ vor. Ungewöhnliche Perspektiven, malerische Sprache, sorgfältige Recherche und Zuneigung zur Materie sind in den zehn Texten konzentriert, sodass ein lebendiges Bild der Kulturlandschaft Siebenbürgen in ihrer Einmaligkeit entsteht. Der „Glanz“, der im Titel erwähnt ist, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch – er lenkt den Blick weg von den Demütigungen und Herausforderungen des 20. Jahrhunderts und ermuntert zu mehr Selbstbewusstsein. Auch rückt er die zutiefst europäische Essenz Siebenbürgens in den Mittelpunkt. Das „Elend“ wiederum bezieht sich auf die jüngsten historischen Entwicklungen und auf die – bei Bergel eindeutige – Beantwortung der Frage „Finis Saxoniae?“

Doch zunächst zum „Glanz“. Bildhaft wird dieser u.a. im Essay „Die großen Siebenbürger des 15. und 16. Jahrhunderts“ dargestellt, in dem Persönlichkeiten wie der Wahlhermannstädter und Raketenpionier Conrad Haas oder der prominente Kronstädter Renaissance-Musiker Valentin Greff Bakfark porträtiert werden. Der Autor greift hier auch auf weniger bis kaum bekannte Quellen zurück, um das Siebenbürgen-Bild jener Zeit zu vervollständigen – etwa auf das 2009 von Hans Hattenhauer und Uwe Bake neu aufgelegte Buch „Ottomannus“ von Lazaro Soranzo (1572-1602), das Siebenbürgen als „osteuropäische Großmacht“ beschreibt. Glanzvoll sind zudem die Autorenporträts, die in „Dichtung als Dokument. Deutsche Sprache und Literatur in Siebenbürgen vom 12. bis zum 20. Jahrhundert“ in knapper Form, aber mit viel Spürsinn für den Kern der jeweiligen literarischen Aussage skizziert werden. Hier geht es nicht „nur“ um überragende Persönlichkeiten wie Johannes Honterus und Stephan Ludwig Roth, um Adolf Meschendörfer, der „die geistigen Türen Siebenbürgens nach Europa hin mit Vehemenz wieder aufstieß“ oder um Erwin Wittstock, dem „Erzähler von jener besonderen Begnadung, der alles zu epischer Ausbreitung und Atmosphäre gerät, was in ihre Reichweite kommt.“ Es geht auch um weiter zurückliegende Leistungen, wie das „Türkenbüchlein“ Georg von Mühlbachs aus dem 15. Jahrhundert, und um pikante Einzelheiten etwa über den Wandel des Kronstädters Johann Gorgias von „Deutschlands schamlosestem Schriftsteller im 17. Jahrhundert“ hin zum „angesehenen Biedermann“.

Mindestens zwei Grundaussagen lassen sich aus diesen Texten herauskristallisieren. Auf der einen Seite unterstreicht Hans Bergel stets die organische Zugehörigkeit Siebenbürgens zu Europa, das „Selbstverständnis überregionaler Verbundenheit und Einheit des europäischen Lebens dieser Bereiche“ (68). Auf der anderen Seite hebt er die Offenheit für das kulturell Andersartige hervor, die für den „Homo Transilvanus Saxonicus“ neben seiner „ethnischen Eigenwüchsigkeit“ kennzeichnend ist. Bergel nennt dies – in Bezug auf siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller –  eine „schicksalshafte Doppelgesetzlichkeit“ (13): einerseits Aufgeschlossenheit für Anregungen aus dem deutschsprachigen Raum, andererseits südosteuropäisches „Lokalkolorit“ durch Entwicklungen und Einflüsse vor Ort. Umso nachdenklicher stimmt das, was im Buchtitel mit „Elend“ umschrieben wird, das „Finis Saxoniae“ oder „das historische Ende der Siebenbürger Sachsen als einer geschlossenen, aus eigener Kraft lebensfähigen ethnischen Gemeinde“ (187). Dabei sieht der Autor die Zäsur von 1945 und die Zeit bis 1989 nicht als „Auslöser“, sondern als „Vollender“ einer langen Entwicklung, die sich über zweieinhalb Jahrhunderte erstreckte.

Spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts, so Bergel, sei die ehemalige „Hochleistungsgesellschaft des Mittelalters“ und die spätere „ständische“ Nation nach und nach zu einer wehrlosen Minderheit reduziert worden. Dazu beigetragen haben die „nationalistische Hemmungslosigkeit“ der Ungarn, der darauffolgende „Bukarester Nationalismus“, die innersächsischen Auseinandersetzungen im Schatten brauner Einflüsse um 1933 und schließlich die „unbegrenzte Diktatur“ nach 1944. Letztere habe nicht nur materiell die Existenzgrundlage der bereits geschwächten sächsischen Gemeinschaft aufgelöst, sondern vielmehr „die Anomalie“ zur Normalität werden lassen und eine „heute kaum vorstellbare epidemische Ausbreitung von Angst und Argwohn“ verursacht (190). Das Ergebnis sei ein akutes „Gefühl der inneren Entheimatung in der Heimat“ gewesen, eine Vertreibung aus Hab, Gut und jahrhundertealter Kulturleistung bei gleichzeitiger „gewaltsamer Festhaltung im Vertreibungsland“ (192).  So lässt sich laut Bergel der Impuls erklären, „sich von jeglichem an Heimat und Erbe bindenden Traditionsballast zu lösen, um jene Freiheit zu gewinnen“ (193), die das „Andreanum“ vor acht Jahrhunderten garantiert hatte. Dass sich die Siebenbürger Sachsen in diesen – bedrückenden und schmerzlichen – Fragen keineswegs einig sind, dessen ist sich Hans Bergel bewusst. Er argumentiert aber, dass „Erscheinungen dieser und vergleichbarer Art mit moralischer Gewichtung … weder entschlüssel- noch erklärbar“ sind (209).

Zum Exodus gibt es jedoch auch eine – nicht minder bedrückende – Kehrseite, die der Autor im Schlusstext „Nach den Narben fragt niemand. Die Schwierigkeit, als Deutscher ein Deutscher zu sein“ schildert. Obwohl dieser Artikel bereits 1988 erstveröffentlicht wurde, könnten viele der Aussagen genauso gut heute geschrieben worden sein. Es geht hier um die Einsicht, dass der Abschied von Siebenbürgen nicht vom erhofften Gefühl des Ankommens in Deutschland belohnt wurde, sondern oftmals vom Gegenteil: von fragwürdigen Zuschreibungen wie „Volksdeutsche“, „Deutschstämmige“, und „Deutschrumänen“, die für die Betroffenen nach all dem Erlebten befremdlich und bitter klingen – keine neue Heimat hat also die eigentliche Heimat ersetzt.

Zum Schluss stellt sich noch die Frage, worauf das „Beteiligte“ im Titel des Buches hindeutet. Hier ist wohl zweierlei gemeint: einerseits verstehen sich die zehn Essays von vornherein nicht als wissenschaftliche Texte, und der Autor möchte offensichtlich keine „Objektivität“ vortäuschen, von der er weiß, dass es sie in diesen Fragen nicht gibt. Zweitens: Hans Bergel ist „beteiligt“, weil er abgesehen vom intellektuellen Rüstzeug in Siebenbürgen zutiefst verwurzelt und emotional engagiert ist. Dies strahlen Texte von faszinierender Bildgewalt und Poesie aus, wie etwa „Die Karpaten. Historischer und mythischer Lebensraum“, wo die siebenbürgischen Berge als „endlos aneinandergereihte Polarbären“ beschrieben werden, „die auf der Wanderung einhielten, um die Sonne auf ihrem gleißenden Fell ruhen zu lassen“ (81), und der Karpatenbär mit seiner „schattenhaft leichten Lässigkeit“, der „unerschütterlichen Kraft“ und der „Neigung zum brummelig Gemüthaften“ vor dem inneren Auge lebendig wird. Rührend ist auch das Stadtporträt Kronstadts „zwischen Abend- und Morgenland“ mit der Schwarzen Kirche von „bestürzendem Ernst“ und den Straßen, über denen ein „Hauch von historischem Abschied“ liegt (119). „Ich habe keine Stadt je wieder so geliebt wie diese“ gesteht Hans Bergel. Es ist eine Liebe, die den Leser mitreißt.

Hans Bergel, „Glanz und Elend der Siebenbürger Sachsen. Rückblicke und Ausblicke eines Beteiligten“, mit einem Vorwort von Alfred Wagner, Edition Noack & Block, Berlin, 2017, 222 Seiten, 45 Abbildungen, gebunden, 24,80 Euro, ISBN 978-3-86813-043-0.