„Was für ein langweiliger Alptraum wäre eine Welt, in der wir alle gleich wären“

Interview mit Daniela Boltres, Lyrikerin und Sprachaktivistin (I)

Daniela Boltres war Gast des Deutschen Kulturzentrums Kronstadt.
Foto: privat

Zurzeit kann man im Deutschen Kulturzentrum Kronstadt eine Ausstellung mit Gedichten von Flüchtlingen und Migranten besuchen. „Wer versteht das schon?” ist ein mehrsprachiges, partizipatives Projekt der aus Zeiden stammenden Lyrikerin und Sprachaktivistin Daniela Boltres, das schon seit über sechs Jahren erfolgreich durchgeführt wird. Daniela Boltres bittet Geflüchtete, Migranten und Menschen internationaler Herkunft, dem Projekt ein Gedicht oder ihre Geschichte(n) in ihrer Muttersprache zu schenken. Die Gedichte werden in gemeinsamen Workshops erarbeitet und für Postkarten, Plakate und ein Gedicht- Büchlein aufbereitet. Boltres, die im Jahr 1987 mit ihrer Familie nach Deutschland ausgereist ist, arbeitet beim „Exil - Osnabrücker Zentrum für Flüchtlinge“. Hier unterstützt man Migranten bei ihrer Anpassung an die neue Heimat. Im Juli wird die Ausstellung auch in Zeiden zu sehen sein. KR-Redakteurin Elise Wilk sprach mit Daniela Boltres über die täglichen Herausforderungen am Arbeitsplatz, über Migration, Grenzen der Sprache, Heimat und Fremde.


Liebe Daniela, kannst du für die Leser der KR das Konzept des Sprachaktivisten erklären?

Als Sprachaktivistin interessieren mich Kommunikationsprozesse und insbesondere Spracherfahrungen. Ich will-und das geht nur zusammen mit anderen – Situationen generieren, in denen wir Fremdheit(en) erfahren, uns ihrer bewusst werden und in denen wir Begegnungsformen ausprobieren. Mich interessiert es, worin die Besonderheit von Menschen besteht, wie sie in sprachlich-kommunikativen Vorgängen zum Vorschein kommen kann (natürlich auch, wie sie bedroht werden kann), und wie wir das machen, dass wir unsere Verschiedenheiten aushalten, wie wir das sprachlich verhandeln.


Ich bin nicht daran interessiert, uns alle anzugleichen.
Übersetzungsprozesse sind für mich nur Versuche, uns einander näher zu bringen.
Was für ein langweiliger Alptraum wäre eine Welt, in der wir alle gleich wären, alle nur noch die gleiche Sprache sprächen!

Das Politische hat unmittelbare Konsequenzen im Privaten. Mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen viele Menschen ihr Land. Wird man in der Fremde zu einem anderen Menschen?

In die Fremde zu gehen, verändert sicherlich, auch wenn gerade politisch/ kulturell/ religiös verfolgte Flüchtende ihren Kontext verlassen, um sich „treu“ bleiben zu können. Darauf basiert schließlich auch die asylrechtliche Anerkennung der Schutzbedürftigkeit von Verfolgten und in der Konsequenz ihre Aufnahme in sichere Länder.


Was dann das neue Umfeld mit den Menschen in der Fremde macht, sehe ich bei meiner Arbeit täglich: Neben der Neugier auf das Neue, hebt die Emigration aber auch die Erfahrung ins Bewusstsein, was verloren ist (Menschen, Landschaften, vertraute Umgangsformen, präzise Ausdrucksmöglichkeiten etc.).

Das führt zuweilen zu starken Verunsicherungen, bis hin zum Rückzug in die sogenannte „eigene“ Kulturgruppe, wie ich es auch aus rumänischen oder siebenbürgisch-sächsischen Diasporagruppen in Deutschland kenne. Man ist „rumänischer“ als man es in Rumänien jemals war.

Bei vielen ausgewanderten Siebenbürger Sachsen hingegen fällt mir auf, dass sie eine Art Fortsetzung ihrer Diaspora-Situation aus Rumänien im neuen deutschen Umfeld weiterleben, mit einer bitteren Note sicherlich für manche: Waren sie „früher“ die mal geachteten, mal verfolgten/ deportierten Deutschen in Rumänien, werden sie in Deutschland je nach Milieu einfach hingenommen oder als noch nicht oder nicht mehr deutsch genug wahrgenommen.

Das zeitigt natürlich unterschiedliche Reflexe, die sich bei vielen Siebenbürger Sachsen auch in ihrer politischen Option niederschlägt. So ist es nicht verwunderlich, dass es eher die CSU bzw. CDU sind, in deren Heimatdiskursen viele Siebenbürgerinnen und Siebenbürger Anschluss suchen und Anerkennung ihrer Besonderheit finden.

Für Geflüchtete oder auch andere politisch motivierte Migrantinnen und Migranten sind trotz der sicherlich verständlichen Sehnsucht nach Kabuls Stimmen, den damaszenischen Straßen, den Gerüchen einer Stadt wie Homs vor dem Krieg oder oder, dann eher liberale oder linke oder grüne Positionen interessant, die Gesellschaft dynamischer begreifen und darum auch organischer Neuzugezogenen Mitgestaltung und damit Handlungsräume bieten, die weniger inhaltlich – kulturell (ethnisch, religiös oder geographisch) definiert sind, als pragmatisch immer wieder neu verhandelt werden können.

Über die Mitgestaltungsmöglichkeit des Gemeinwesens – ob im Verein, in der Nachbarschaft, in einer Bürgerinitiative, in Parteien, Gewerkschaften - hat für manchen Zugewanderten Deutschland an Fremdheit verloren und er ‚deutsche‘ Handlungsweisen angenommen.

 

Dein Interesse für die Themen Migration und Flucht kommt sicher auch davon, dass du selbst mit deiner Familie aus dem kommunistischen Regime geflohen bist. Du bist in Zeiden aufgewachsen, 1987 bist du nach Deutschland ausgewandert. Welche Erinnerungen hast du von dieser Ausreise?

Ich will mich auf zwei Momente, die der Ausreise vorhergingen, beschränken: Auf meinen übergroßen Unwillen gegen unsere Ausreise bzw. auf die absurden Erledigungen, die der Ausreise vorhergingen.

Grundlage für unsere Ausreise war, dass mein Vater 1986 im Winter als Tourist nach Deutschland gefahren, aber nicht mehr zurückgekommen war. Ich wäre gerne in Rumänien bei meinen Großeltern geblieben, die mich hätten adoptieren müssen. Dafür hätten mich meine Eltern freigeben müssen. Was natürlich durch die Flucht meines Vaters nicht möglich war. So war dann alles klar.

Die Ausreiseformalitäten bestanden in jenen Jahren in einem mehrstufigen Verfahren. Nachdem meine Mutter und ich im Frühsommer 1987 „auf der Miliz“ in Kronstadt gewesen waren, um die sogenannten „Kleinen Formulare“ einzureichen, die Sache also ernst wurde, beschloss ich-leider erfolglos - einen Riegel vorzuschieben: Beim nächsten Motorradausflug mit meinem Großvater warf ich auf den Heldsdörfer Hattert während der Fahrt meinen Personalausweis in einen Straßengraben.

Bei der Einreichung der „Großen Formulare“ – im Vorfeld der historischen Novembertagen der Kronstädter Arbeiterproteste - fühlte ich mich von der Ausreise noch bedrohter und wiederholte meine Strategie an einem anderen Ort: Ich stopfte die gesamte Dokumentenmappe in einen Mülleimer beim Milizgebäude, „la pa{apoarte“. Erneut vergeblich, wieder wurde alles gefunden und uns zurückgegeben.

Ich will hier noch eine Sache erzählen, die mir inzwischen so absurd vorkommt, dass ich sie bald nicht mehr glauben mag: Wir hatten ja das Anrecht auf zwei große Holzkisten, die wir als legale Auswanderer dank des Wohlwollens und auf Kosten der Bundesrepublik Deutschland mitnehmen durften. Im Wesentlichen bestimmte jedoch die Sozialistische Republik Rumänien vor allem, was wir nicht mitnehmen durften:Fotos, Schriftstücke, Tagebücher, Bücher, Bilder, Messer. So kamen wir im November 1987 in der Bundesrepublik unter anderem mit folgenden Gepäck an: mit unseren bislang nie genutzten, immensen Inox-Töpfen, Porzellanfiguren, einem Dutzend schweren Damasttischtüchern, schweren Wolldecken sowie etlichen kratzigen Wollsocken von unseren Schafen (in milch-weiß, schiefer-grau und rotbraun).

Deutsch war keine Fremdsprache für dich. Hast du dich trotzdem in Deutschland fremd gefühlt?

Das war eigentümlich: Ich verstand und sprach Deutsch fließend, hatte meine letzten Schuljahre im Honterus-Lyzeum in der Mathe-Physik-Klasse verbracht. In meinen Lieblingsfächern Deutsch (bei Frau Schuster und Frau Puchianu!), Rumänisch, Englisch, Französisch, Latein wurde für mich die Welt, obwohl ich die Schwere der 80er Jahre sehr bewusst erlebt habe, immer größer. Ich kam ja auch noch aus einer mehrsprachigen Familie mit Eltern verschiedener Kulturkreise, mein Großvater sprach neben Sächsisch Deutsch und Rumänisch auch noch Ungarisch, Russisch und Romanes.

Dann Ende 1987 plötzlich die Enge des reichen satten Westdeutschland. Alles funktionierte, alles war perfekt.
Ich lernte zum Glück bald die Geschichten der deutschen Kriegsflüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg kennen, die auch 50 Jahre später nicht vergessen waren, zudem auch die der vielen Familien von Gastarbeiternnen und Gastarbeitern, deren Kindern ich Deutschnachhilfe erteilte. Da lernte ich Deutschland noch einmal neu kennen.

In der neuen Schule am Niederrhein, in der ich einfach die 10. Klasse fortsetzen konnte, hatte ich bald den Ruf weg, „Lutherdeutsch“ zu sprechen, was wirklich freundlich gemeint war: Obwohl der Niederrhein ein tief-katholisches Land ist, sind mir kaum offenere großzügigere Menschen begegnet.

Dennoch: Ich verstand die Welt um mich herum nicht, alles erschien mir kodiert: Lebensverhältnisse, die hinter Wörtern wie „Pumpernickel“, „Klinkerhaus“, „Jahreswagen“ oder „Risikolebensversicherung“ steckten, waren mir schleierhaft. Ich war kurz gesagt die ersten 2-3 Jahre in Deutschland stumm. Ich konnte nur zu Themen, aber nicht über mich und was mir fehlte, sprechen. Irgendwann hätte ich Vorträge zu „Pumpernickel“, „Klinkerhaus“, „Jahreswagen“ oder „Risikolebensversicherung“ halten können (in Wahrheit waren es in der Schule eher Texte zu Werther, Canetti, Wissenschaftstheorie), aber über mein Heimweh habe ich sehr lange nicht sprechen können. Das entfernte mich für lange Zeit von meinen neuen Freundinnen und Freunden.

Wie sieht ein Arbeitstag beim Exil- Osnabrücker Zentrum für Flüchtlinge aus?

„Exil“ lebt vom ehrenamtlichen Engagement seiner über 130 Mitglieder sowie mehr als 300 Ehrenamtlichen in allen möglichen Bereichen. Wir sind ansprechbar in Osnabrück mit seinen 160.000 Einwohnern für die ca. 4500 Geflüchteten.
Wir haben etablierte Abteilungen, in denen auch hauptamtlich gearbeitet wird: den großen Bereich Beratung, in dem wir Sozial-, Rechtsberatung, Familiennachzugsberatung bzw. ich Sprachberatung anbieten.

Dann den Bereich der Begegnungs- und Beteiligungsformate, in dem Einheimische und Geflüchtete regelmäßig gemeinsame Veranstaltungen und Treffs organisieren, wie Freizeit für Flüchtlingskinder, Familientandems, Internationale Frauengruppe. Dazu gehören auch meine beiden Projekte WER VERSTEHT DAS SCHON?© und neuerdings auch LEBEN ERZÄHLEN SCHREIBEN©, im Rahmen derer ich mit mehrsprachigen Co-Moderatorinnen und -Moderatoren mehrsprachige Erzähl- und Schreibwerkstätten für Geflüchtete und Einheimische anbiete.

Bis auf den Dienstagnachmittag - da hab ich die Sprachsprechstunde - verlaufen daher meine Arbeitstage sehr verschieden, auch wenn es natürlich wiederkehrende Abläufe gibt. So bin ich regelmäßig im Gespräch mit ‚meinen‘ verschiedenen Teams: Für die ehrenamtlichen Lehrkräfte (es sind ca. 16 Personen), die wöchentlich auf verschiedenen Niveaus Deutschunterricht erteilen, organisiere ich die Räume, das Lehrmaterial, Fortbildungen.

Außerdem bin ich die Ansprechpartnerin für die ehrenamtlichen Organisatorinnen und Organisatoren unseres Café International sowie der Arbeitsgruppe Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit, die jeweils alle zwei Wochen zusammenkommen, um den Cafébetrieb zu organisieren bzw. das Kulturprogramm zu planen und durchzuführen. Wir bieten monatlich Veranstaltungen an (Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Workshops).

Aktuell betreue ich außerdem eine Praktikantin, eine Masterstudentin in Soziologie, und arbeite mit einer syrischen Kollegin, die bei uns ihren Bundesfreiwilligendienst absolviert, an mehrsprachigen Begegnungsprojekten zusammen.

(Fortsetzung hier)