Auch rumänischsprachige Filme gezeigt

Braunschweiger „Filmfest“ feierte Jubiläum

Szene aus der Dokumentation „Milch und Honig aus Rotfront“ (1999)

Anişoara lebt in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf in der Republik Moldau. Die bezaubernde junge Frau mit hypnotisierend grünen Augen wirkt fremd in ihrer Umgebung. Sie wird von einfach gestrickten bis abstoßenden Männern begehrt, und der Mann, den sie liebt, heiratet eine andere Frau. Doch Anişoara befreit sich eines Tages aus dem einengenden Kaff.

Das Märchen in vier Episoden wird in einer deutsch-moldawischen Filmproduktion von Ana-Felicia Scutelnicu erzählt. „Anişoara“ (2016) ist gleichzeitig die Abschlussarbeit der Regisseurin an der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie Berlin. Das langsame Tempo ist mitunter etwas anstrengend, aber die starken Bilder aus dem ländlichen Moldawien wirken umso überwältigender. Dialoge sind selten, der Film lebt von Gestik, Mimik, Blicken. Die Laiendarstellerin Ana Morari ist eine grandiose Entdeckung, außerdem haben Dorfbewohner aus Trebujeni und Butuceni bei Orhei überzeugende Schauspielauftritte. Zu sehen war der Film im Rahmen des „Braunschweig International Filmfestival“, das vom 7. bis 13. November sein 30. Jubiläum feierte. Auch der bereits letzte Woche in der ADZ rezensierte Film „Die Reise mit Vater“ von Anca Miruna Lăzărescu (Deutschland/ Rumänien/ Ungarn/ Schweden, 2016) wurde hier gezeigt.
Insgesamt waren auf dem „Filmfest“ – wie das Ereignis von Stammgästen liebevoll genannt wird – 134 Lang- und 210 Kurzfilme aus rund 50 Ländern sowie fünf Filmkonzerte zu sehen (und zu hören).

Blutjunge Regisseure, die beinah ohne Budget ihre Filme drehen, Laienschauspieler, die auf der Straße oder in den sozialen Netzwerken gecastet werden, fließende Grenzen zwischen Genres und eine deutliche Tendenz hin zum Minimalismus – so die allgemeinen Trends. Auch Promis waren auf dem Filmfest dabei: Der Hauptpreis des Festivals, die „Europa“, ging an den irischen Schauspieler Brendan Gleeson, den man aus Filmen wie „Brügge sehen... und sterben?“ (2008) und „Into the Storm“ (2009) kennt. Zudem erhielt der Filmkomponist Patrick Doyle für sein Lebenswerk (die Musik zu „Sense and Sensibility“, „Harry Potter“, „Planet der Affen“) den „Weißen Löwen“. Der deutsch-französische Jugendpreis „Kinema“ ging an „Compte tes blessures“ (zu Deutsch „Zähle deine Wunden“, der Titel wird allerdings offiziell mit „A Taste of Ink“ übersetzt). Das exzellente Vater-Sohn-Drama über das männliche Erwachsenwerden, gedreht von dem 26-jährigen Regisseur Morgan Simon, feierte in Braunschweig seine Deutschland-Premiere.

Eine der (fast zu vielen) Filmreihen wurde polnischen Streifen gewidmet. Damit wollten die Veranstalter das Filmland Polen in den Mittelpunkt rücken, das seit dem Wahlsieg der Nationalkonservativen in seiner Kreativität zunehmend unterdrückt wird. Zu sehen waren zehn Spielfilme, inklusive der fabelhafte „Ida“ von Pawel Pawlikowski (2015), der den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhalten hat. Ein Erlebnis war der neue Film „All these sleepless nights“ („Alle diese schlaflosen Nächte“) von Michal Marczak, der zwei Studenten durch das Nachtleben Warschaus begleitet. Elektro-Partys, Liebesabenteuer und kein bisschen Tageslicht, dazu ein sehr gelungener Soundtrack und eine gute Mischung von Inszenierung und Dokumentation – all das entzückte in einem inspirierten wie inspirierenden Streifen.
Fiktion und Realität sind auch in „Die Moskauer Prozesse“ von Milo Rau (Deutschland, 2014) miteinander verbunden, diesmal jedoch mit erbarmungslos wachrüttelnder Wirkung. Der Film dokumentiert ein Theaterprojekt, das reale Akteure der politischen Prozesse um zwei Kunstausstellungen und die Punk-Band „Pussy Riot“ erneut vor Gericht verhandeln lässt.

Das Ergebnis ist ein atemberaubender Spiegel der zeitgenössischen russischen Gesellschaft. Ähnlich wirkt „The land of the enlightened“ („Das Land der Auserwählten“, Belgien, 2016): Der Regisseur Pieter-Jan de Pue begleitet afghanische Kinder und US-amerikanische Soldaten in einer bildgewaltigen Produktion, die ebenfalls in der Grauzone zwischen Fantasie und Wirklichkeit angesiedelt ist. Überraschend in seiner Konzentriertheit trotz knapper Geldkasse und mangelnder Unterstützung ist zudem der bulgarisch-griechische Film „Slava“ (2016) von Petar Valchanov und Kristina Grozeva, der die schmerzhafte Begegnung zwischen dem einfachen Menschen und der politischen Maschinerie eindrucksvoll thematisiert. Eine dokumentarische Kostprobe war auf dem Filmfest nicht zuletzt der Streifen „Milch und Honig aus Rotfront“ von 1999, eine deutsch-kirgisische Produktion von Hans-Erich Viet über die deutsche Minderheit in Kirgisien, gedreht auf 35-Millimeter-Film. Die ursprünglich aus Friesland stammenden Deutschen, die der mennonitischen Glaubensgemeinschaft angehören, berichten von ihrem schwierigen Leben in der Nachkriegszeit, von ihrem einfachen wie rührenden Alltag, von Auswanderung und dem Aussterben einer einzigartigen Kultur.