Bach versus Schnittke

Gastchor aus Hamburg mit konstrastreichem Konzertprogramm in Hermannstadt

Johann Sebastian Bachs fünfstimmige Motette „Jesu, meine Freude“, das „Requiem“ für Soli, Chor, Orgel und Instrumentalensemble von Alfred Schnittke, und ein original hanseatisches „Magnificat und Dona nobis pacem“ für Solo-Sopran, Saxophon, Klavier und Chor aus der „Messe für den Engel“ von Claus Bantzer (geboren 1942) auf ein und demselben Konzertprogramm: der Chor St. Johannis aus Hamburg-Harvestehude und Chorleiter Christopher Bender haben am 21.Oktober in der Evangelischen Stadtpfarrkirche Hermannstadt ihr Bestes geboten. Zwei große und total gegensätzliche Brocken geistlicher Musik an einem Abend, das ist Maximum selbst für Profis.

In Hermannstadt und Siebenbürgen ist man noch immer gerne konservativ. Zeitgenössische Chormusik als Mainstream? Hier undenkbar. Geht man es behutsam an, stoßen einzelne Kostproben musikalischer Moderne auf offene Ohren. In der Evangelischen Stadtpfarrkirche Hermannstadt wurde vor Jahren schon einmal Benjamin Brittens „War Requiem“ aufgeführt, und die „Matthäuspassion“ von Hans Peter Türk erlebte Karfreitag 2007 am selben Ort ihre Uraufführung. Auch dank der Aufführung von Schnittkes „Requiem“ hat das vorhandene, leise Misstrauen vielleicht etwas abgenommen. Das Werk des in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen geborenen, fast zeitlebens in der Sowjetunion gefangenen Alfred Schnittke war vermeintliche Spitze im Können der Hamburger Gäste.

Mit den zeitgenössisch geprägten Harmonien und Tonfolgen, dem Sprechgesang und der modernen Tonsprache überhaupt schien der Chor St. Johannis keine Schwierigkeiten zu haben. Die Chorsängerin-nen und Chorsänger, die Solisten Elisa Gunesch (Alt, Hermannstadt), Annika Sophie Ritlewski (Sopran), Johannes Gaubitz (Tenor), und das aus Orchestermitgliedern der Hermannstädter Staatsphilharmonie gebildete Instrumentalensemble waren in ihrem Element. Eine singende, nicht lärmende Männerstimme wie die des Johannes Gaubitz ist in Rumänien schwer aufzutreiben. Im „Magnificat und Dona nobis Pacem“ von C. Bantzer landete Annika Sophie Ritlewski mit ihrem Sopran einen Volltreffer, gleichfalls souverän interpretierte Ciprian Dancu, Klarinettist der Hermannstädter Staatsphilharmonie, den Saxophon-Part. Der einwandfreien Leistung des ehemaligen Solo-Trompeters Gheorghe Brănici gebührt alle glänzende Achtung. Rostfreies, kein altes Eisen! 

Ein Wort zu Alfred Schnittke und Claus Bantzer: im Industriestaat Deutschland gehört Musik nach wie vor zur Allgemeinbildung, Notenlesen und selber Töne erzeugen zählt – im Unterschied zu Rumänien – als Breitensport. Es klafft keine unüberwindbare Grenze zwischen Musikern und Nicht-Musikern, was natürlich mit der Tatsache übereinstimmt, dass, wer im Chor St. Johannis-Harvestehude/Hamburg mitsingen möchte, unbedingt musikalische und gesangliche Vorbildung mitbringen, über Notenkenntnisse und Blattsingfähigkeiten verfügen muss. Lässt sich trotz so engem Raster ein 80 bis 90 Personen starker Laien-Chor aufstellen, sind dem Repertoire eben keine Grenzen gesetzt. Ansonsten muss man sich damit abfinden, dass in vielen Köpfen die Musikgeschichte bei Schütz beginnt, mit Reger endet. Was immerhin 300 Jahre wertvollste Chor-Literatur bedeutet, welche für mindestens ebenso viele Musikerleben ausreicht.

Maestro Bach lebte zwei Jahrhunderte vor dem Zeitalter der nicht mehr wegzudenkenden Autobahn; nicht weniger dringend brauchen wir aber auch den fünften Evangelisten. „Jesu, meine Freude“: Bei Bach gibt es nicht die heiligen drei, sondern E-Dur und vier Kreuze, damit der Motette auch wirklich ein mit eigenen Sinnen greifbarer Geist innewohnt. In der Karwoche 2017 wird er in der Evangelischen Stadtpfarrkirche Hermannstadt wieder zu hören sein, wenn der Chor der Klausenburger „Transilvania“-Staatsphilharmonie und das Orchester der Hermannstädter Staatsphilharmonie gemeinsam unter der Leitung von Nicolae Moldoveanu (Schweiz) die Matthäuspassion aller Matthäuspassionen in einer hoffentlich zünftigen Aufführung musizieren werden. Der größte aller Thomaskantoren kann gar nicht anders, als das Zitat „Den Toten er das Leben gab“ im triumphierenden E-Dur singen zu lassen.

Die zahlreichen Tricks, welche Bach zwecks musikalischer Deutung eines Textes anwendet, sind umso lohnender, je mehr sie ausgekostet werden. Dirigent Christopher Bender hatte für „Jesu, meine Freude“ jeweils schnelle Tempi genommen. Eine zumindest fragwürdige Entscheidung, liegt es doch in der Natur der Sache, dass ein Nicht-Berufs-Chor die komplizierte, 20 Minuten dauernde Motette nicht im Zeitraffer singen können muss. Die Fuge „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich“ war grenzwertig virtuos, und der auskomponierte „Geist“ im alleine bleibenden Sopran während der letzten Aussage vor Beginn der abschließenden Choralstrophe wurde von Christopher Bender kein wenig zelebriert, kein Aussingen, alles eingeebnet, noch dazu intonierte der Sopran an genau dieser Stelle, wo die Krönung hätte gefeiert werden sollen, deutlich zu tief und zu leise. Hetze allein um der Schnelligkeit willen hält den Freudenmeister fern.

Meisterwerken der geistlichen Chormusik muss man mit professioneller Qualität begegnen. Nicht exzessive Virtuosität ist deren Gradmesser, sondern die Beschäftigung mit dem musikalisch-geistigen Material, das Freisetzen sämtlicher, von einem Meister wie Bach deutlich auf Papier notierten Schwingungen. Wenn man alte Aufnahmen z. B. von Günther Ramin u. a. anhört, denkt man sich, Gott sei Dank musizieren wir heute nicht mehr derart langsam. Doch unsere Reizschwelle schraubt sich immer weiter hinauf, oft merken wir selber nichts davon. Bleiben wir lieber bewusst auf der goldenen Mitte bestehen, mit welcher wir in der jüngeren Vergangenheit gut zurechtgekommen sind, und lassen andere den Turm zu Babel bauen. Auch im kleinen Siebenbürgen ist großes Erleben möglich.