Dadaistisch-barockes Liebesspektakel

Henry Purcells Semi-Oper „The Fairy Queen“ in Stuttgart

Johann Jürgens als Demetrius und Mark Milhofer als Queen of Secresie in Calixto Bieitos Inszenierung von Purcells „The Fairy Queen“
Foto: Julian Röder

Fällt es schon schwer, William Shakespeares Komödie „Ein Sommernachtstraum“ in wenigen Worten nachzuerzählen, so erscheint es geradezu als ein Ding der Unmöglichkeit, die Handlung von Henry Purcells Semi-Oper „The Fairy Queen“, die das Shakespearsche Drama voraussetzt und zugleich weiterspinnt, in der gebotenen Kürze auch nur in Ansätzen wiederzugeben. Zu turbulent ist das Geschehen, zu verwirrend der Zusammenhang des Ganzen, zu überbordend der Reigen an dramatischen Vorkommnissen, denen gleichwohl allesamt und ausnahmslos am Schluss ein Happy End zuteil wird!

Die außer Rand und Band geratene Drehbühne des Stuttgarter Schauspielhauses gibt dabei permanent und simultan mehreren Künsten Raum, die mit-, neben- und gegeneinander um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen: der Instrumentalmusik, verkörpert durch das Staatsorchester Stuttgart; der Vokalmusik, verkörpert durch internationale Gesangssolisten und den Staatsopernchor Stuttgart; der dramatischen Kunst, verkörpert durch Ensemblemitglieder des Schauspiels Stuttgart und eine reiche Statisterie; und nicht zuletzt der literarischen Kunst der Übersetzung, die Shakespeare-Texte aus den Federn von Jürgen Gosch, Angela Schanelec, Wolfgang Wiens und Michael Mertes (auch August Wilhelm Schlegel lässt sich mitunter vernehmen) zum gesprochenen deutschen Bühnenlibretto der mit Fug und Recht so bezeichneten Stuttgarter Fassung versammelt. Allein die gesungenen Texte des Purcellschen Vokallibrettos erklingen, deutsch übertitelt, in englischer Sprache.

Die musikalische Leitung dieser Koproduktion von Oper und Schauspiel Stuttgart oblag Christian Curnyn, der vom Cembalo aus dirigierte. Regisseur dieser Inszenierung, die am 31. Januar 2016 in Stuttgart Premiere hatte und am 4. Januar 2017 ihre zwölfte Vorstellung erlebte, war Calixto Bieito. Die Handlung der Stuttgarter Fassung von „The Fairy Queen“ wurde von den beiden Dramaturgen Patrick Hahn und Bernd Isele verfasst, und dazu gehörte auch das Vorspiel vor dem Theater, das die Zuschauer bereits vor dem regulären Beginn der Semi-Oper auf den Treppenaufgängen und im Oberen Foyer des Stuttgarter Schauspielhauses in die komödiantische Handlung des Gesamtkunstwerkes hineinzog und damit schon im Vorhinein einen Teil des Personals dieses Dramas der Irrungen und Wirrungen als fröhliche Hochzeitsgesellschaft, damit das schlussendliche Happy End bereits vorwegnehmend, Revue passieren ließ.

Der Regisseur der Stuttgarter Fassung von Purcells Semi-Oper „The Fairy Queen“ hat sich in einem Interview folgendermaßen zu seiner Inszenierung geäußert: „Es erschien mir weniger wichtig, die Geschichte des Sommer-nachtstraums noch einmal zu erzählen, als mit den Werken Purcells und Shakespeares Geschichten von der Liebe zu erzählen. Für mich ist der Abend eine surreale Mischung aus einer modernen Liebesgeschichte, einem dadaistischen Fest und einem barocken Spektakel. Der Tanz wird zum verbindenden Element zwischen Sängern und Schauspielern. Wie sich hier Text und Musik verbinden, wie Menschen und Märchenwesen in unterschiedlichen Sprachen kommunizieren und sich dennoch verstehen, darin liegt für mich ein utopisches Potenzial der Freiheit.“

Ordnung in dieses dadaistisch-barocke Liebesspektakel hat der Regisseur Calixto Bieito vor allem durch die Konzentration des Bühnengeschehens auf zwei mal drei Personenpaare gebracht: Oberon und Titania, Lysander und Hermia, Demetrius und Helena stehen als Shakespearsche Schauspielerpaare den Purcellschen Sängerpaaren Night und Hymen, Mystery und Spring, Queen of Secresie und The Indian Boy gegenüber, wobei es nicht nur unter den Schauspielern zu erotischen Übergriffen kommt, sondern auch von den Schauspielern auf die Sänger, etwa wenn sich Titania den hübschen Indian Boy für ein Schäferstündchen angelt, für das sie Oberon dann später durch ein Eselstündchen mit Bottom/Zettel, der in der Stuttgarter Fassung den sprechenden Namen Eberhard trägt, bestraft.
Der Mangel an dramatischer Konzentration und dramaturgischer Geschlossenheit wird in Calixtos Inszenierung durch rauschhafte Überfülle an Requisiten, durch Reichtum an Regieeinfällen, durch ein überbordendes Bühnengeschehen und durch ein inszenatorisches Ideenfeuerwerk mehr als kompensiert.

Letztlich knüpft Calixto mit seiner Inszenierung an einen Vorläufer der englischen Barockoper an, die höfischen „Masques“: Maskeraden oder Maskenspiele, bei denen sich Dichtung, Tanz, Musik, Kostüm, Bühneneffekte und Architektur verbanden. So verlangte Purcell im Libretto zu seiner Semi-Oper beispielsweise Verwandlungen, die nicht nur für die damalige Bühnentechnik eine große Herausforderung bedeuteten. In einer Bühnenanweisung zum dritten Akt heißt es etwa: „Während eine Sinfonie erklingt, schwimmen zwei Schwäne durch die Brückenbögen zum Flussufer, als ob sie landen würden; sie verwandeln sich in Elfen und tanzen; zur gleichen Zeit verschwindet die Brücke und die Bäume, die zu Bögen verbunden waren, richten sich auf.“ Der Blick der Zuschauer, der in der barocken Guckkastenbühne noch zentralperspektivisch gebunden war, wird durch Calixtos Drehbühne gleichsam entfesselt, und dem Betrachter schwirrt zunehmend der Kopf, wenn das gesamte Orchester, ein quirliger Puck, taumelnde Festgäste, aus „Fairy“-Fensterspray-Flaschen sprühende Akteure, Kaninchen, Esel und vieles mehr wie in Rilkes „Karussell“ in wilder Hatz an seinem im Kreise irrenden Blick vorüberfliegen. Das von Mystery intonierte Motto des Abends „One charming night gives more delight than a hundred lucky days“ (Eine bezaubernde Nacht schenkt mehr Lust als hundert glückliche Tage) betont denn auch den herausgehobenen Status dieser einen Nacht, diesen Ausnahmezustand der Kunst, die den Betrachter aus seinem natürlichen Dasein in die Zirkuskuppel artistischer Schwerelosigkeit katapultiert.

Die Gefahr des Absturzes ist freilich auch in dieser festlich überschäumenden Stuttgarter Fassung gegeben, insbesondere wenn die verschiedenen Künste (Schauspiel, Tanz, Gesang, Musik) einander ins Gehege geraten. So wird in der von Christian Curnyn musikalisch betreuten Inszenierung die Trennung von Schauspiel und Oper partiell aufgehoben, wenn beispielsweise Schauspieler und Sänger gemeinsam auf der Bühne singen. Das gelingt jedoch allenfalls bei Oberons Trunkenheitsgesang oder in der Szene, in der Demetrius in ein Tenorduett einstimmt, in allen anderen Fällen wirkt aber die künstlerische Fallhöhe als Schafott, das dem Versuch der Durchmischung der Theaterformen hörbar das Genick bricht. Doch das geht in diesem rauschhaften Fest der Sinne ohnehin unter, bei dem selbst noch der Katermorgen als Eselstraum erscheint.