„Das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“

Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe im Bukarester Radiosaal

Der Komponist Carl Friedrich Zelter, den eine tiefe Künstlerfreundschaft mit Goethe verband und der zu dessen wenigen Duzfreunden zählte, bezeichnete Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe im Jahre 1811 anlässlich der Proben mit der Berliner Sing-Akademie als „das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“. Mit der Gesamtaufführung der h-Moll-Messe durch Zelter im Jahre 1813 sowie mit der Aufführung der Bachschen Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahre 1829 begann der Prozess der Wiederentdeckung des großen deutschen Barockkomponisten, dessen Werke seitdem zum festen musikalischen Repertoire in den Kirchen und Konzertsälen der Welt gehören.

Am Abend des letzten Werktages vor Beginn der Karwoche wurde Bachs monumentales geistliches Opus (BWV 232), das mitunter auch als „Hohe Messe in h-Moll“ bezeichnet wird, im Großen Saal des Rumänischen Rundfunks in feierlicher Atmosphäre aufgeführt. Alle Sängerinnen und Instrumentalistinnen ganz in Schwarz, die Männer in schwarzen Anzügen mit weißen Hemden, nur der rote Rock der zweiten Sopransolistin und die roten Stühle, auf denen der Rundfunkchor Platz nahm, setzten farbliche Akzente vor dem beherrschenden Prospekt der Rieger-Kloss-Orgel, die an diesem Abend im Großen Radiosaal auch klanglich zum Einsatz kam.

Die Gesangssolisten der Bukarester Aufführung des zweistündigen Vokalwerkes waren Irina Iordăchescu (1. Sopran), Mihaela Stanciu (2. Sopran), Antonela Bârnat (Mezzosopran), Lucian Corchiş (Tenor) und Ion Dimieru (Bass). Die Instrumentalsolisten waren sämtlich Mitglieder des Nationalen Rundfunkorchesters, das gemeinsam mit dem Akademischen Rundfunkchor und seinem Dirigenten Dan Mihai Goia den Tutti-Apparat dieses musikalischen Ereignisses formte. Die Gesamtleitung der Konzertveranstaltung, die von der Bukarester Nationaloper unterstützt wurde, hatte Tiberiu Soare inne.

Die Komposition der h-Moll-Messe beschäftigte Johann Sebastian Bach über Jahrzehnte hinweg, von ihren Anfängen 1724 bis zu ihrem Abschluss im Dezember 1749. Ob der im Jahr darauf gestorbene Komponist eine Gesamtaufführung dieses seines gigantischen Werkes noch selbst erleben konnte, ist nicht bezeugt. Jedenfalls ist die h-Moll-Messe Bachs einzige vollständige Messe, „missa tota“ genannt, gegenüber der musikalischen Form der „missa brevis“, bei der nur das Kyrie und das Gloria der lateinischen Messe vertont wurden. Von jener Kurzform sind seitens Bachs vier Messen überliefert, seine sog. Lutherischen Messen in F-Dur, A-Dur, g-Moll und G-Dur.

Die h-Moll-Messe, deren von Carl Friedrich Zelter stammende Bezeichnung sich eingebürgert hat, obwohl in diesem Werk die Zahl der Sätze in D-Dur diejenige in h-Moll bei weitem übersteigt, war weder für den katholischen noch für den protestantischen Gottesdienst bestimmt. Sie war eher als Summa der Komposition von Messen, ja als Inbegriff geistlicher Musik überhaupt, gedacht, als abstraktes Werk mit Modellcharakter, darin den Bachschen „Goldberg-Variationen“ oder seiner „Kunst der Fuge“ vergleichbar. Zugleich trägt die h-Moll-Messe den Charakter eines musikalischen Vermächtnisses, da Bach bei ihrer Komposition auf frühere seiner Werke, vorzugsweise auf Kantaten-Sätze, zurückgriff, diese jedoch umfassend überarbeitete, bereichernd ausgestaltete und in die Gesamtkomposition der h-Moll-Messe vereinheitlichend integrierte.

So ist zum Beispiel das „Crucifixus“ der h-Moll-Messe, der siebzehnte von insgesamt siebenundzwanzig Sätzen des Monumentalwerkes, der Bachschen Kirchenkantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) entnommen, wobei Bach jedoch den Satz aus seinem früheren Werk in der Neufassung zum Ende hin von Moll nach Dur modulierte, um mit dieser Veränderung des Tongeschlechts in der h-Moll-Messe den strahlenden Einsatz des darauf folgenden achtzehnten Satzes „Et resurrexit“ glanzvoll vorzubereiten.
Nahezu jeder der siebenundzwanzig Sätze der h-Moll-Messe, die in vier Hauptteile (Missa, Credo, Sanctus, Osanna / Benedictus / Agnus Dei / Dona nobis pacem) untergliedert ist, brachte in der Bukarester Aufführung reiche musikalische Erlebnisse und exquisite Hörgenüsse.

Bereits der Eingangssatz „Kyrie eleison“ offenbarte die Stimmgewalt, die Ausdruckskraft und die differenzierte Tongebung des Akademischen Rundfunkchors, der sich in der h-Moll-Messe zuweilen bis zur Achtstimmigkeit auffächerte und der, wenn man so will, als Hauptperson das gesamte musikalische Geschehen der h-Moll-Messe bestimmte und trug. Bevor sich der dritte Satz „Kyrie eleison“ in einem erneuten majestätischen Chorsatz an die dritte Person der Trinität, an den Heiligen Geist, wandte, so wie sich der erste Satz an Gott Vater gewandt hatte, erklang dazwischen ein elysisch verklärtes Duett „Christe eleison“, das von den beiden Sopransolistinnen, begleitet von den Violinstimmen und einem Cellocontinuo, hingebungsvoll vorgetragen wurde und das die Sehnsucht und Seligkeit inniger Jesusmystik erahnen ließ. Nicht von ungefähr hat Johann Sebastian Bach auch anderen Sätzen seiner h-Moll-Messe, die sich unmittelbar an den Herrn Jesus, die zweite Person der Dreieinigkeit, wenden, die Form von Duetten gegeben („Domine Deus“: Sopran-Tenor-Duett; „Et in unum Dominum“: Sopran-Alt-Duett).

Monumentale Chöre intonierten die beiden Sätze „Gloria in excelsis“ und „Cum Sancto Spiritu“, mit dem der insgesamt zwölfsätzige „Missa“-Teil der h-Moll-Messe seinen Abschluss fand. Von diesen beiden Kompositionen umrahmt, erklangen mehrere Sätze, bei denen verschiedene Instrumentalisten des Nationalen Rundfunkorchesters solistisch hervortraten, so die Violine der Konzertmeisterin in „Laudamus te“, eine Querflöte in „Domine Deus“, eine Oboe in „Qui sedes ad dextram Patris“, die das herrliche Alt-Solo der Mezzosopranistin umspielte, und ein Horn in „Quoniam tu solus sanctus“, das wunderbar zusammen mit den Fagotten den Sologesang des Bassisten begleitet.

Im Zentrum des neunteiligen „Credo“-Teils standen die drei Chorsätze, die die heilsgeschichtliche Bedeutung Christi melodisch untermalten: „Et incarnatus est“, „Crucifixus“ und „Et resurrexit“. In letzterem Satz wurden die strahlenden Bach-Trompeten hörbar, die auch in anderen Sätzen der h-Moll-Messe, oftmals unterstützt von der Orgel oder von der Pauke, Erhabenheit und Glanz verbreiteten, so zum Beispiel auch im „Sanctus“, dem einsätzigen und damit kürzesten Teil des Bachschen Monumentalwerkes.
Im fünfsätzigen Schlussteil hinterließ insbesondere das „Agnus Dei“ einen berührenden Eindruck, dessen beeindruckende Alt-Arie auf den vierten Satz des Himmelfahrtsoratoriums „Lobet Gott in seinen Reichen“ (BWV 11) zurückgeht und das noch einmal einen innigen Gegenpol zu den jubilierenden und triumphierenden Chorsätzen „Osanna in excelsis“ darstellte.

Nach dem emphatischen Schlussbeifall im voll besetzen Großen Radiosaal dürfte es wenige gegeben haben, die das Urteil des Musikwissenschaftlers und Bach-Forschers Karl Geiringer nicht geteilt hätten: „Im Verein mit Beethovens Missa Solemnis zählt Bachs große Messe zu den unsterblichen Zeugnissen für die Suche der Menschheit nach den ewigen Wahrheiten.“