Das Trauma und das Phänomen der „Gruppe“

Neues Heft der „Spiegelungen“ erschienen

„Mein ganzes Leben lang habe ich geträumt, ich suche ein Haus, eine Wohnung für mich, für die elterliche Familie, für meine eigene, ich suche Möbel und sammle sie. ... Ich fülle die Schränke mit weißen Vasen aus Überfangglas, dann gehe ich im Traum durch diese Räume, betrachte die Möbel, die Gläser, die immer wieder verschwinden und denen ich nachtrauere. Ich trauere also den Räumen und den Möbeln nach, die ich im Traum besessen und wieder verloren habe, und jenen, die wir in der Wirklichkeit verloren haben.“ – Die Genauigkeit der Beobachtung ist bezeichnend für die Schilderung einstiger Lebenswelten, wie sie die Autorin Enid Gajek, geb. 1936 in Kesmark (Slowakei), in ihrer poetisch potenzierenden, mitunter auch ironisch gebrochenen Erinnerungsprosa „Unser Haus an der Goldenen Straße“ einbringt. Mit ihren Memoiren, die auch ein Stück Familien- und Zeitgeschichte darstellen, eröffnet die Vierteljahresschrift „Spiegelungen“, herausgegeben vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilans-Universität München (IKGS), ihre neueste Ausgabe (Heft 2/2012).

In der literarischen Rubrik sind auch neue Gedichte von Werner Söllner, geboren 1951 in Neupanat/Horia (Banat), zu lesen, kühl berührende Texte, die von Traumatisierungen geprägt erscheinen: „Ich hörte nichts, ging, als der Schnee/ kam, fast noch Sommer, er sprang// mir ins Haar, wie du siehst.“ Mit Lyrik ist auch der Kronstädter Rolf-Frieder Marmont, geb. 1944, vertreten, der Momente der Erinnerung in südöstlicher Landschaft heraufbeschwört. Vom Schriftsteller und Publizisten Franz Heinz, geb. 1929, wird ein Mosaik aus Mini-Essays geboten, die schlaglichtartig Persönlichkeiten und Ereignisse beleuchten, die in seinem Leben und beruflichen Wirken Eindruck hinterlassen haben. Unter dem Titel „Verschallt. Banater Resonanzkasten mit levantinischem Akkord“ vereint der Beitrag pointierte Texte u. a. über den Komponisten und Chorleiter Matthias Schork, den Dichter und Dramaturgen Robert Reiter/Franz Liebhard, den Maler Franz Ferch, den Arzt und Volkskundler Dr. Erich Lammert, den Journalisten Georg Hromadka sowie die Autoren Nikolaus Berwanger und Ludwig Schwarz. 

Das Heft bietet auch neue Textproben aus dem Literaturlexikon deutschsprachiger Schriftsteller in und aus Südosteuropa, das im IKGS vorbereitet wird. Die Artikel, verfasst von Sándor Komáromi bzw. Ferenc Szász, erinnern an den in Deutschland und international bekannt gewordenen, aus Budapest stammenden Essayisten, Übersetzer und Theatermann Ivan Nagel (1931-2012) und an den Germanisten und Übersetzer József Turóczi-Trostler, eigentl. Josef Trostler (1888-1962), der u. a. eine ungarisch und deutsch erschienene, umfassende Nikolaus-Lenau-Monografie herausbrachte.
Die neuere rumäniendeutsche Literaturszene wird durch einen eingehenden Bericht über die Jubiläumstagung „40 Jahre ‘Aktionsgruppe Banat’. Akteure und Texte – Mitstreiter und Begleiter“ ins Blickfeld gerückt. Über die Veranstaltung an der West-Universität Temeswar, die von IKGS-Direktor Prof. hon. Dr. Stefan Sienerth und der Leiterin des Temeswarer Germanistiklehrstuhls Prof. Dr. Roxana Nubert gemeinsam organisiert worden war, berichtet Anna Lindner (Temeswar/Wien). Das Phänomen der „Gruppe“ und ihre Verfolgung durch die Securitate werden in dem Beitrag als Hauptthemen der Tagung hervorgehoben.

Im Bereich Zeitgeschichte wäre zunächst der Aufsatz „Erinnerung an die Deutschen in Marburg a. d. Drau/Maribor“ von Tanja Žigon (Laibach/Ljubljana) zu nennen, der, ausgehend von einer Ausstellung, die im Kulturhauptstadtjahr 2012 in Maribor (Slowenien) zu sehen war, ein differenziertes geschichtliches Bild der Stadt und ihrer Bewohner, einschließlich der Deutschen in Marburg/Maribor bietet. Deren Leistungen werden aufgezeigt, aber auch die nationalen Spannungen bleiben nicht unerwähnt, die sich, wenn sie zum Tragen kamen, verhängnisvoll auswirkten, so nach dem Zweiten Weltkrieg, als vom kommunistischen Regime über die dortige, kollektiv beschuldigte deutsche Volksgemeinschaft politische und ökonomische Sanktionen verhängt worden waren.

Der bekannte siebenbürgisch-sächsische Historiker Michael Kroner behandelt in seiner dokumentarischen Darstellung das Thema „Die besondere Lage der deutschen Schulen Nordsiebenbürgens in den Jahren 1940–1950“ als Folge des Wiener Schiedsspruches und des Anschlusses Nordsiebenbürgens an Ungarn sowie als Folge der Flucht der Nordsiebenbürger Sachsen im Herbst 1944.

In der Rubrik „Forum“ berichtet Michaela Nowotnick über die Usedomer Literaturtage, die in diesem Jahr den Schwerpunkt auf Rumänien und die deutsche Literatur aus Rumänien gelegt hatten. Ingrid Szöllösi fasst ihre Eindrücke vom Dokumentarfilmseminar der Akademie Mitteleuropa in Bad Kissingen zusammen („Siebenbürgische Geschichten in acht Bildern“). Es werden gut über ein Dutzend neuer Bücher zu einer breitgefächerten Thematik (Literaturwissenschaft, Philosophie, Gegenwartsliteratur, Dialektologie, Geschichte und Memorialistik) vorgestellt. Reichhaltig ist auch diesmal die „Rundschau“. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Richard Wagner zeichnet Anton Sterbling das geistige Profil des aus dem Banat stammenden Autors nach. Es folgen einschlägige Berichte und Nachrichten, die die Kultur und Geschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn in und aus Südosteuropa thematisieren.