Ein Beitrag zur Erinnerungskultur und zum aktiven Gedenken

„Ascheregen“ von Joachim Wittstock neu aufgelegt

Joachim Wittstock: „Ascheregen“. Erzählungen, hora Verlag Hermannstadt 2018, ISBN 9786068399157

Einen „karpatenländischen Plutarch“ nennt der Einband der Neuauflage dieses bereits 1985 veröffentlichte Werk von Joachim Wittstock. Damit verweist er nicht nur auf das Zitat aus dem ersten Band der Parallelbiografien der Griechen und Römer von Plutarch, das Joachim Wittstock in einer frühen Übersetzung des 16. Jahrhunderts aus der Bibliothek des Barons von Brukenthal in Hermannstadt bewusst programmatisch vor seine Erzählungen setzt. Vielmehr liefert das Zitat wie der Untertitel „parallele Lebensbilder und ein Vergleich“ einen Hinweis auf die Struktur und das ethische Ansinnen der Erzählungen. Wie bei Plutarch geht es Joachim Wittstock um das gemeinsame Erleben, aber auch um die Anerkennung der unterschiedlichen Sichtweisen, wie sie sich aus der diversen ethnischen und sozialen Herkunft seiner Hauptfiguren ergeben.

In sechs Kapiteln rekonstruiert Joachim Wittstock literarisch die Lebensläufe jener Generation aus Rumänien, die „um 1920 geboren – als jüngste in den Zweiten Weltkrieg eintrat und deren Opfer mit dem Preis der Jugend bezahlt wurde.“ (S. 7)

Daher gibt der Titel der Episoden jeweils den Ort an, an dem ihre Hauptfiguren zu Tode gekommen sind. Der Titel „Auf den Bergen von Ogradena“ bezieht sich also auf den Schicksalsort für Erwin Brestovski, den unehelichen Sohn eines k.u.k.-Offiziers, der eher unfreiwillig im rumänischen Heer dient. „Im ‘Nordwesten des Königsteigs’ endet die Geschichte des Orbán Márton, dessen fiktive Figur angelehnt ist an den realen Ungarn Mihály Balogh und die hier im Unterschied zu allen anderen aus der Perspektive des Vaters erzählt wird. Der Czernowitzer Jude Lejser Fichman flieht aus der Bukowina nach Konstanza, aber das rettende Palästina erreicht sein Schiff nicht. Mit Blick auf „Ahtopol am Horizont“ sinkt es nach einem Torpedoangriff. Während der letzten Tage in Konstanza erinnert Lejser sich an seine Freundschaft zu der früh verstorbenen Dichterin Selma Meerbaum, an ihre gemeinsame Liebe zur deutschen Sprache, die er unter den gegebenen Umständen verleugnet und die ihm verleidet wird.

Seine Protagonisten stellt uns Joachim Wittstock nicht nur in dramatischen Kriegsszenen, sondern in kleinen alltäglichen Begebenheiten vor, die, unbesehen ihres Wahrheitsgehalts, dennoch deren Wesenszüge und inneren Konflikte bestens zu charakterisieren vermögen. Diese fiktionalisierende Methode soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um reale Schicksale handelt, daher die weitestgehende Beibehaltung der Klarnamen samt der angefügten biografischen Anmerkungen und Fotografien, damit die Personen, die „einst einem kleineren oder größeren Kreis etwas bedeutet haben“ (S.7), erinnert werden können.

So Kurt aus der Familie von Hochmeister aus Hermannstadt, aus deren Mitte der berühmte Stuhlrichter und Bürgermeister Martin von Hochmeister entstammte. Ein Name, der verpflichtet und den der jüngste Spross als Belastung empfindet. Liegt darin ein Motiv, sich freiwillig und eher entgegen der Familientradition zur deutschen Waffen-SS zu melden? „Zwischen Wagenküll und Wohlfahrt“ im Baltikum endet die Reise des nun eingedeutschten Panzergrenadiers. Dem gegenüber stirbt im Kapitel „Morgen-Grauen in Iași“ der Rumäne Remus Petru jämmerlich an Typhus im Gefangenenlager. Ein ähnliches Schicksal ist auch Konrad Müller, dem Sohn des Bischofs der evangelischen Landeskirche in Rumänien, Friedrich Müller- Langenthal, beschieden. Im „Lazarett Beraun“ im Böhmischen liegt er fieberkrank auf den Tod. Auch er läuft als Opfer einer falsch verstandenen Loyalität noch in den letzten Kriegsmonaten zu den Deutschen über. Im gleichen Kapitel wird auch sein Bruder Gerhardt fahnenflüchtig. Er jedoch verlässt die deutsche Armee in den letzten Kriegstagen, um sich zu seiner deutsch-russischen Freundin nach Stendal durchzuschlagen, und stirbt irgendwo auf offenem Feld.

Einige für den Fortgang der Handlung wichtige Nebenfiguren, wie der Fotograf und Filmreporter Otto-Fritz Keul, hier unter dem Namen Foto-Frank geführt, und der deutsche Diplomat Hans Bernd von Haeften, der in Siebenbürger Kreisen eine besondere Vermittlerrolle einnahm, seien hier auch aufgeführt. Foto-Frank gehört zum Kreis der Brukenthal-Gymnasiasten und steht sowohl zu Kurt von Hochmeister, mit dem er befreundet ist, als auch zu Konrad Müller, dem er in Budapest begegnet, in Beziehung.

Aus diesem Nebeneinander der Episoden wird im letzten Kapitel „Ascheregen“ eine fiktive Begegnung im Vorhof zur Unterwelt, die Raum für ein ethisches Fazit bietet. Scheinbar ganz konkret spielt sich dieses Geschehen in der zerklüfteten und unwirtlichen Landschaft um die Salzburger Seen in der Nähe Hermannstadts ab. Der Ort ist nicht zufällig ausgewählt, verweist er doch auf eine Begebenheit, in der Konrad mit Hans Bernd von Haeften eine Auseinandersetzung um Toleranz, Mitmenschlichkeit, Dünkel gegenüber anderen Völkern – in diesem Fall sind es die Zigeuner – während eines Badeaufenthalts führt. Dabei ist es der deutsche Diplomat, der, entgegen seiner Landesdoktrin, zu einer größeren „Aufgeschlossenheit für das Leben der anderen Völkerschaften in diesem Raum“ plädiert, ja sogar die Siebenbürger Sachsen warnt, „diese Sonderung wird sich früher oder später rächen (S. 252). Dem gegenüber rechtfertigt Konrad halbherzig seine Reserviertheit gegenüber den Zigeunern mit der herrschenden „Rassenlehre“ (S. 251). An diese Episode knüpft „Ascheregen“ an, der Titel steht als Metapher wohl für den Krieg und seine nivellierende Wirkung auf die Toten. Im Fiebertraum von Konrad, auf den die kursiven Einschübe in diesem Kapitel verweisen, gestaltet sich eine mystische Welt, in der alle Protagonisten auf ihrem Weg in die Unterwelt Rechenschaft über ihre Vergehen ablegen.

Die Konflikte um Identität und falsch verstandene Loyalität, aber auch das bereits angedeutete Spannungsfeld zwischen Fakten und Fiktion, die zahlreichen Metaphern, derer sich Joachim Wittstock bedient, sind in vielen Rezensionen und sprachwissenschaftlichen Untersuchungen bereits mehrfach abgehandelt worden, so von Horst Schuller in „Fiktion und Fiktionalisierung in der Prosa von Joa-chim Wittstock“, oder Rodica Ofelia Miclea in „Salzburg – Ein Topos und seine Symbolik in ‘Ascheregen’ von Joachim Wittstock“ oder auch von Christina Weigel in „Symbole zu unsicheren und mehrdeutigen Identitäten im Roman ‘Ascheregen’ von Joachim Wittstock“, um nur einige zu nennen.

Gezielt wendet sich Wittstock damit an ein weitestgehend rumäniendeutsches Publikum. Das wird auch deutlich in Stil und Sprache, die den Eigentümlichkeiten des Vielvölkergemischs Rumäniens, durch eingeflochtene magyarische oder rumänische Redewendungen oder altertümlich anmutende Ausdrücke der k.u.k.-Zeit, Rechnung tragen. Auch sind Wittstocks auf Ausgleich bedachte Formulierungen durchaus als ein stilbildendes Element der siebenbürgisch- sächsischen Kultur zu begreifen. Eine allzu krasse Wortwahl, wie sie z. B. in der zeitgenössischen Sprache der deutschen Landser vorkommt, zitiert Wittstock mit spitzer Feder und setzt solche Verbalinjurien in Klammern. „Auch Kurt hatte die ihm als Siebenbürger zunächst ungewohnten Scheltworte benutzen gelernt,… und er hielt sich nicht zu fein für den Gebrauch des militärischen Analdeutsch…. “ (S. 153).

Es ist diese verständnisvolle und behutsame He-rangehensweise bei der Schilderung der Geschicke seiner Protagonisten, ohne deren Verantwortung oder Schuld zu leugnen, aber mit viel Verständnis für die Zwänge und inneren Konflikte, die sich aus ihrer ethnischen und religiösen Vielfalt ergeben, die Joachim Wittstocks Prosa so unverwechselbar erscheinen lässt. Dass in Siebenbürgen die Uhren anders gehen, bleibt dabei nicht unerwähnt. „Selbst heute, wo man versucht, alles Deutsche in Rumänien über einen Kamm zu scheren, bleibt noch dies Anderssein und zwar in vielen Schattierungen.“ (S. 245).

Damit liefert Joachim Wittstock einmal mehr einen „Beitrag zum imaginären Erinnerungswerk Siebenbürgens“, wie er selbst sich in einem Interview, das er mit Gerda Ziegler im Jahr 2009 führte, ausdrückte.