Eine literarische Wiederentdeckung

Liviu Rebreanus Roman „Der Wald der Gehenkten“ in neuer deutscher Übersetzung

Liviu Rebreanu: „Der Wald der Gehenkten“, Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2018. ISBN 978-3-552-05903-0.

Das Ende des Ersten Weltkriegs jährt sich 2018 zum hundertsten Mal. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts stellt einen epochalen geschichtlichen Einschnitt dar, der Politik, Gesellschaft und Kultur innerhalb Europas nachhaltig veränderte.

Denkt man in Deutschland an den Ersten Weltkrieg, steigen im Bewusstsein Bilder auf, die vor allem geprägt sind von den Materialschlachten und dem Stellungskrieg in den Schützengräben der Westfront. Dabei ist die „andere Front“, jene im Osten, mit ihren Bewegungskriegen, dem Vordringen und Zurückweichen der militärischen Verbände, weniger präsent. Die dortigen Frontverschiebungen führten mitunter zu rücksichtsloser Besatzungsherrschaft in den eingenommenen Regionen. Außerdem sorgte die ethnisch heterogene Zusammensetzung vieler Truppen für eine komplizierte Dynamik innerhalb und zwischen den Streitmächten.

Eben diese Gemengelage bildet den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Romanhandlung von Liviu Rebreanus „Der Wald der Gehenkten“ (Pădurea spânzuraților). Dieser 1922 im Original erschienene Klassiker der rumänischen Literatur liegt nun in neuer deutscher Übersetzung vor und darf zurecht als Wiederentdeckung bezeichnet werden. Der rumänische Schriftsteller, Dramatiker und Journalist Liviu Rebreanu, 1885 im siebenbürgischen Târlișua geboren und 1944 in Valea Mare bei Pitești gestorben, entfaltet in seinem Roman den vielschichtigen, konflikthaften Zustand jener Zeit und wirft den Leser hinein in das Stimmungsgefüge, innerhalb dessen sich die Menschen bewegten, die sich dem Kriegsgeschehen ausgesetzt sahen.

Zu Beginn der Handlung, an der Front in Galizien, soll ein Soldat hingerichtet werden, der zum Feind überlaufen wollte. Teil des Kriegsgerichts, das dieses Urteil verhängt, ist ein aus Siebenbürgen stammender Leutnant, Hauptfigur des Romans. Apostol Bologa, so sein Name, droht später selbst der Galgen. Er wird ebenfalls der Desertation angeklagt, denn er weigert sich im Verlauf der Erzählung, den Befehl zu geben, auf seine eigenen Landsleute schießen zu lassen. Eine Entscheidung, für die Bologa mit allem bezahlen wird: seiner Karriere, seiner Liebe und seinem Leben.

Autor Liviu Rebreanu zeichnet hier auch das Schicksal seines eigenen Bruders nach, der während des Krieges, 1917, von einem k. u. k.-Militärgericht zum Tode verurteilt wurde.
Die Darstellung von Sinnlosigkeit und Legitimation des Krieges erfolgt im Romanverlauf anhand der unterschiedlichen Perspektiven, die die Figuren vertreten. Blinde Kriegslust und -abscheu, Fügsamkeit und Widerstand stehen nicht selten dicht nebeneinander und manchmal genügt nur ein Lichtwechsel, um aus dem einen das andere werden zu lassen. Aber es ist natürlich nicht immer so eindeutig.

Apostol Bologa tritt zunächst als eine von soldatischer Pflicht überzeugte Person auf, verantwortungsbewusst, diensteifrig, aber seine Bewertung der Dinge ändert sich. Die Widersprüche und Unmenschlichkeiten des Krieges stellen ihn vor existenzielle Fragen und er wandelt sich zum widerständigen Deserteur. Seine Entwicklung ist bereits vorausdeutend am Anfang des Romans in einer Szene angelegt, wenn Bologa den Galgen für die geplante Exekution inspiziert. „Sein Blick war an dem Galgen hängen geblieben, dessen Arm die Männer in der Grube zu bedrohen schien. In diesem Augenblick begann der Strang zu pendeln.“ Hier tritt alles zusammen. Gewissheiten gibt es nicht, das Unglück des Krieges kann jederzeit und wie zufällig in alle Richtungen ausschlagen.

Einen anderen Typus bekommt der Leser am Beispiel des Leutnant Gross vor Augen geführt, dessen Maxime das pure Überleben ist. Nicht Stolz oder Pflicht sind Grundlage seines Handelns. Nur wenn man das Grauen des Krieges überlebe, so die Legitimation seiner Fügsamkeit und letztlich Feigheit, nur dann könne man im Anschluss dafür eintreten, dass zukünftig ein friedliches Miteinander gewährleistet bleibt.

Dem Ersten Weltkrieg gingen Modernisierungsschübe voraus. Gesellschaftliche und ästhetische Entwicklungen, die immer schneller vonstatten gingen, sorgten dafür, dass sich in nahezu allen sozialen Kreisen ein Unbehagen an der Kultur etablierte. Vielerorts wurde der Verlust von Sinnhaftigkeit beklagt, der Wunsch nach unverstellter, existenzieller Erfahrung kam auf. Die Luft in den jeweiligen gesellschaftlichen Blasen wurde zunehmend sauer. Ein verfeinerter Zynismus, eine fatalistische Sympathie mit dem Abgrund, dem großen Knall schlich sich auf Seiten aller politischen Lager ein. Eine Stimmung, die auch der Roman aufgreift: „Im Übrigen brodelte die Stadt vor ansteckender Begeisterung. Auf dem Bürgersteig, in den Kaffeehäusern, an der Universität, überall waren die Menschen fröhlich, als hätte der Krieg sie von einer furchtbaren Gefahr erlöst oder ihnen himmlisches Glück verheißen.“ Die Zahl derer, die das Heraufziehen dieses Kriegs nicht entschlossen genug bekämpften oder die ihn gar herbeisehnten, war groß. Darin darf der Leser eine Parallelität zur Gegenwart sehen und zumindest eine Warnung entnehmen, dass solche Entwicklungen jederzeit eine zerstörerische Kraft für einen humanistisch-demokratischen Diskurs darstellen und, wie historisch mit dem Ersten Weltkrieg geschehen, in eine Katastrophe münden können.

Der Roman versäumt nicht, die brutale Realität des Krieges abzubilden, das Leid, das Europa damals überall ereilt hat. Es wird deutlich, warum Europa nicht gegeneinander funktionieren kann, sondern auf ein Miteinander zielen sollte. „Ein Wechselfall des Lebens hat Millionen Menschen einander gegenübergestellt, sie mit dem Zeichen des Todes versehen und so gezwungen, ungeahnte Geheimnisse in ihren Seelen zu entdecken und unerwartete Entscheidungen zu treffen.“ Erzählt uns Rebreanu seinen Stoff auch vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, bleibt der Roman jedoch für uns Heutige ungemindert relevant und lesenswert.

„Der Wald der Gehenkten“ gilt als einer der ersten rumänischen Romane der literarischen Moderne. Übersetzer Georg Aescht gelingt es, seine stilistische Gestaltung ins Deutsche zu überführen und seine epische Wucht und suggestive Kraft zu wahren. Sprachmächtig, ohne manieristisch zu sein, stellt sich die Erzählung dem Krieg entgegen, was ihn zu einem bedeutenden europäischen Roman werden lässt.