Entstehung des Rumänenbildes in der ungarischen Kultur

Deutsche Übersetzung der Studie von Melinda und Sorin Mitu auf der Leipziger Buchmesse präsentiert

Auf der Leipziger Buchmesse wurde nicht nur Belletristik aus Rumänien vorgestellt, sondern auch Sachbücher in deutscher Übersetzung. So die deutsche Übersetzung der Studie „Die Rumänen aus ungarischer Perspektive: Entstehung eines ethnischen Bildes“ des Historikers Sorin Mitu von der Babeș-Bolyai-Universität, Klausenburg, und der Kuratorin des Klausenburger Nationalen Geschichtsmuseums, Melinda Mitu, durch Julia Richter. Hauptgegenstand der Untersuchung ist dabei nicht das historisch-politische Verhältnis, wie es sich aus Ereignissen wie Kriegen, Vertragswerken oder anderen faktisch greifbaren Manifestationen ableiten lässt, sondern die Imagologie, die Erforschung der „… Art und Weise, wie eine fremde Realität im Bewusstsein einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe reflektiert wird“ (S.14). Der Untersuchungszeitraum für die Entstehung des Rumänenbildes wird parallel zum postulierten Modernisierungsprozess und damit einhergehend der sogenannten „Nationenbildung“ in Ungarn und Rumänien auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts festgelegt. Nicht zuletzt, weil der so aufkommende Nationalismus auch den Blick auf die „Anderen“ nachhaltig verändert. Zwar wird z. B., was die Reiseberichte angeht, auch der Blick auf die Donaufürstentümer gerichtet, aber das Hauptaugenmerk der Untersuchungen ist doch auf die Rumänen in Siebenbürgen fokussiert, weil hier das größte Konfliktpotenzial liegt, beanspruchen doch beide das gleiche Territorium. Die sich hieraus ergebende „Erbfeindschaft“ von Ungarn und Rumänen stellt daher auch eines der Leitmotive dar, deren Ursprünge in den verschiedenen schriftlichen Äußerungen nachgegangen wird.

Bei der Genese der Nation in Ungarn und Rumänien, die analog zur westlichen Geistesgeschichte erst in der Neuzeit einsetzt, konstatieren die Autoren dennoch einige mittelalterliche Rudimente, die einen fundamentalen Unterschied andeuten. So leiteten sich die „Hungaren“ im Wesentlichen von den mittelalterlichen Adelsstämmen, d. h. den Eliten des Landes ab, auch wenn diese soziale Diskriminierung im modernen Staat nivelliert wurde. Umgekehrt sind die „Rumâni“ der Walachei, aber auch in Siebenbürgen die Kaste der Bauern, während sich der Adel mit dem slawisch-bulgarischen Begriff „Boieri/ Bojaren“ (S. 21) schmückt. Hinzu treten bei den Rumänen der aufkommende Historismus, der mit dem Nationalismus Hand in Hand geht, und die dako-romanische Kontinuitätsthese, nach der das dako-romanische Siebenbürgen immer schon ein Teil Rumäniens war.
Trotz einiger Gegenstimmen stellt insgesamt die Ableitung vom römischen Ursprung der Rumänen mit Hinweis auf ihre lateinische Sprache für die Ungarn kein großes Problem dar, da ihr Überlegenheitsgefühl sich mehr auf das ungarische Königreich beruft. Insbesondere in Siebenbürgen besaßen die Rumänen ja keinerlei rechtlichen Status, waren also eine zu vernachlässigende Größe.

Die geschichtlichen Betrachtungen, bei denen die Rumänen in den Fokus der ungarischen Historiker geraten, fokussieren sich auf wenige entscheidende mittelalterliche Persönlichkeiten, wie Johann Hunyadi, dessen strittige Herkunft Gegenstand von Disputen ist, oder Ereignisse der Neuzeit, wie den Horea-Aufstand, vor allem aber die Revolution von 1848, die das Verhältnis der beiden Nationen zueinander entscheidend veränderte. „Das Bild des historischen Gegners, des ‚Jahrhundertfeindes‘, wird zu einem wesentlichen Element der nationalen Identität, sowohl der Rumänen als auch der Ungarn.“ (S. 24) Dabei kann konstatiert werden, dass erstens die Rumänen für die Ungarn weniger bedeutsam waren als umgekehrt, und dass zweitens die Betrachtungen vor 1848 positiver ausfielen als danach, zum Teil weil man den rumänischen Nationalismus unterschätzte und sich sogar Illusionen in Bezug auf den Widerstand gegen die gemeinsame Besatzungsmacht der Habsburger machte.

Klischees, Legenden, kurz das Narrativ, das sich in Zeitungsartikeln, Schulbüchern, Reisebeschreibungen, aber auch Geschichtswerken ergibt, werden zunächst detailliert geschildert, um schließlich die Hintergründe und Intentionen der Verfasser in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen. Als Blaupause dienen dabei Konzepte des „Orientalismus“, wie sie beispielsweise von Edward Said entworfen wurden. Auf Südosteuropa übertragen, gilt als Klassiker „Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil“ von Maria Todorova, oder das jüngst in der ADZ besprochene Werk „Das wilde Europa - Der Balkan in den Augen westlicher Reisender“ von Božidar Jezernik, Ljubljana (s. ADZ vom 19. August 2016).

Im Eingangskapitel „Das Bild der Ungarn über die Rumänen und die symbolische Geographie des Westens“ wird im Sinne eines Eurozentrismus davon ausgegangen, dass sich die Länder zwischen Okzident und Orient je barbarischer, „wilder“, verhalten, je weiter sie vom Zentrum der Zivilisation, d. h. „dem Westen“ entfernt liegen. Zum Teil wird auch behauptet, sie lägen praktisch in einer Grauzone, wären unterdrückt und müssten nur auf den Pfad der Tugend zurückgeführt bzw. von schädlichen Einflüssen befreit werden. Während das Verhältnis zum Orient meist von imperialistischen Gelüsten geleitet wird, mischen sich im Falle des europäischen Ostens pädagogisch-emanzipatorische Vorstellungen in die Intentionen westlicher Beobachter – wobei die Ungarn gegenüber den Rumänen bestenfalls eine paternalistische Grundhaltung an den Tag legen.

„Das Selbstbild der Rumänen entstand in erster Linie als polemische Replik auf die konstruierten Repräsentationen fremder Beobachter, deren Darstellungen als feindlich und herabwürdigend empfunden wurden.“ (S. 28) Als eine Actio-Reactio beschreiben die Autoren diesen Prozess, ausgehend von der demonstrativen Überlegenheit des Westens – der Frustration auf der Gegenseite und schließlich der Verinnerlichung des Wertesystems des Westens, der Akzeptanz der eigenen Minderwertigkeit und den daraus resultierenden Assimilierungsbemühungen.
Im Falle des Verhältnisses zwischen Ungarn und Rumänen bedeutet dies, dass letztere als „gute Wilde“ dankbar für die „westliche“ Magyarisierung sein müssten, weil sie so auf einen höheren Zivilisationsstand gehoben werden. Umgekehrt wird das Bild der Rumänen von den Ungarn „orientalisiert“, da sie sich so besser von ihnen abgrenzen können. Besonders bei den Reisebeschreibungen in die Fürstentümer der Walachei oder der Moldau scheint immer wieder Unverständnis durch, wenn es um den Despotismus der Bojaren oder das tägliche Laissez-faire geht, bisweilen wird auch Faszination gegenüber dem exotisch orientalischen Lebensstil geäußert. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von Reisebeschreibungen anderer westlicher Autoren.

Die Religionszugehörigkeit zum orthodoxen Glauben wird als trennendes Element hervorgehoben, das die Rumänen dem griechischen bzw. russischen Kulturkreis annähert und im letzteren Fall politische Ängste provoziert. In Siebenbürgen wurde die Hinwendung der Rumänen zum griechisch-katholischen Glauben als Akzeptanz der ungarischen Dominanz interpretiert.

Relativ zum Ende des Buches werden unter der Rubrik Reisebeschreibungen die negativen und positiven Klischees über die rumänischen Eigenheiten aus Sicht der Ungarn aufgelistet. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen Männern und Frauen, letztere werden in einem durchweg positiveren Licht gesehen. Verkürzt, erscheinen die Männer als arbeitsscheue Trunken- und Raufbolde, geknechtet, abergläubisch und hässlich, während die Frauen schön, sanft und fleißig sind, auch wenn vereinzelte Stimmen diesen Klischees entgegenwirken und ihre positiven Einzelerfahrungen bewusst gegen die allgemeinen Vorurteile stellen.

Sowohl bei den Reisebeschreibungen als auch bei den geschichtlichen Betrachtungen fällt auf, dass zu der fast 170 Jahre währenden Epoche, in der weite Teile Ungarns dem Osmanischen Reich eingegliedert waren, kaum 100 Jahre später keinerlei Bezug mehr hergestellt wird. Obwohl der orientalische Einfluss ja viel tiefgreifender gewirkt hatte als beispielsweise in Siebenbürgen und selbst in der Walachei, scheint diese Epoche aus dem Bewusstsein der Ungarn gänzlich verschwunden zu sein.

In ihren Schlussfolgerungen konkretisieren die Autoren, wie die grundsätzliche Haltung der Ungarn gegen-über den Rumänen von einem Überlegenheitsgefühl geprägt war, dass sich klassenspezifisch aus der Haltung der meist intellektuellen, also privilegierten Beobachter gegenüber der bäuerlichen rumänischen Bevölkerung ergab, was sich bisweilen noch aus dem Standesdünkel des Mittelalters der ungarischen Adligen gegenüber den rechtlosen Bauern speiste. Mitgefühl, Verachtung, bisweilen aber auch Kritik am herrschenden System der Leibeigenschaft und der sozio-kulturellen „Rückständigkeit“ gegenüber dem aufgeklärten Westen sind weitere Grundzüge der ungarischen Sichtweise.

Wenn Melinda und Sorin Mitu in ihren Schlussbemerkungen darauf hinweisen, dass die Beschäftigung mit den Rumänen für die Ungarn, zumindest innerhalb des betrachteten Zeitraums, einen geringeren Stellenwert einnimmt als umgekehrt, überrascht das nicht wirklich. Ist doch Desinteresse und Gleichgültigkeit gegenüber zumindest gefühlt unterlegenen Nationen auch andernorts weit verbreitet. Keine ganz kluge Haltung, wie das „Schockerlebnis“ der 1848-Revolution belegt.
Das „Konzept des wilden Ostens“ ist allerdings ein relatives, bisweilen reicht das Reich der „Hunnen“ bis an den Rhein, zumindest in den Augen der Nachbarn der Deutschen. Zu „Hunnen“ wurden die Deutschen eigentlich erst im 20. Jahrhundert, zuvor herrschte meist das Bild vom schläfrigen „teutschen Michel“. Entgegen dem relativ konstanten Bild – einige positive Abweichungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts einmal ausgenommen –, das sich die Ungarn von den Rumänen machten, können Fremdbetrachtungen in Mitteleuropa offensichtlich sehr konträr ausfallen. Denkt man an die lange Zeit gepflegte Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, so wird dieser Topos heute durch den der „Achse Berlin-Paris“ als Motor der europäischen Union ersetzt. Mitunter wird dieses neue Narrativ durch kuriose Verweise auf ferne Zeiten, so auf das Frankenreich des „Charlemagne“ angereichert.

Das Narrativ von der rumänisch-ungarischen „Jahrhundertfeindschaft“ ist, wie die Autoren Sorin und Melinda Mitu belegen konnten, letztlich ein Konstrukt der Neuzeit. Darüber hinaus verdanken wir ihnen die Sichtbarmachung der Genese des ethnischen Bildes der Rumänen. Ob die Ungarn oder andere Beobachter ihm auch in Zukunft erliegen, wird sich erweisen.