Erfrischende Neudeutung alter Kunstideale, mangelhafter Einfallsreichtum

Publikumsmassen des Theaterfestivals Hermannstadt benötigen Orientierungshilfe

Ein Programmpunkt während des Theaterfestivals: Der Paradeaufmarsch schottischer Dudelsäcke aus Großbritannien in der Hermannstädter Fußgängerzone
Foto: der Verfasser

Immer spielt er mit, der Tod, sei es in der Biografie jedes einzelnen Menschen oder in der Geschichte ganzer Völker auf allen Erdteilen. Und er tut es mit ungebrochener Leidenschaft, wehrt stur und erfolgreich jedes Bitten der Gastgeber um Schonung ab. Für welche Hintertüre hat während des Aufeinandertreffens mit Freund Hein allein der Mensch den rettenden Schlüssel zur Hand? Erstaunlicherweise stehen gerade mal fünf Buchstaben über dem Notausgang: Kunst. Selbstverständlich bedeutet es keine Anstrengung, den Begriff auf Bildschirme zu projizieren und auf Papier oder Leinwand zu drucken. Kunst und Kultur kommen ohne zeitaufwändiges Werbehandwerk nicht aus, erlangen aber erst auf Wegen gedanklicher Entschlüsselung vollständige Reife. Vermessen wäre es daher, in der Nachbereitung des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt/Sibiu (FITS), das heuer in 25. Auflage vom 8. bis 17. Juni stattfand, sämtliche Ereignisse in das Raster der Qualität integrieren und keine Spuren billig-kommerzieller Veranstaltungen feststellen zu wollen. Kontinuierlich sinkt die Zahl unbedarfter Zuschauer, die sich an dem FITS alljährlich restlos erfreuen. Jede weitere Festivalauflage trägt stetig zum Wachstum eines gebildeten Publikums bei. Womöglich steht das FITS auf dem Scheideweg und vor der zukünftigen Aufgabe, allzu leicht Stehapplaus spendende Zuschauermassen zu einem versierten Theaterpublikum umerziehen zu müssen, möchte es seine herausragende Identität in der internationalen Kulturlandschaft langfristig nähren. Richtig gute Kunst gibt den Anstoß zum Nachdenken und verfolgt nicht allein das Ziel, um jeden Preis Eindruck zu schinden. Das FITS 2018 ging unter dem süßen Motto „Leidenschaft“ über zahlreiche Bühnen in und um Hermannstadt, und doch ertönt im Nachhinein die Frage nach dem künstlerischen Sauerteig, der niemals vollständig aufgebraucht werden darf und immerzu aufgefrischt werden muss.

„Ich habe nur ein Meisterwerk gemacht, das ist der Boléro; leider enthält er keine Musik“. Maurice Ravel (1875-1937) höchstpersönlich war zu Lebzeiten ganz und gar nicht glücklich darüber, dass sein „Boléro“ für großes Sinfonieorchester bald nach der Uraufführung 1928 auf Publikumsseite das Gegenteil eines fruchtbaren Gärungsprozesses in Gang brachte. Hätte Ravel geahnt, dass die Musikwelt seinen „Boléro“ bald nur noch als einen abgestandenen Kassenschlager goutieren würde, hätte er die Komposition vermutlich abgebrochen. Sein Glück jedoch und auch das Glück Hermannstadts, dass die südafrikanische Vuyani Dance Company am Freitag, dem 15. Juni, sowie am Samstag, dem 16. Juni, insgesamt dreimal mit der berauschenden Vorstellung „Ravel – Boléro: Tanzrequiem“ auf der Bühne des Radu-Stanca-Theaters (TNRS) gastierte. Nach einer Darbietung dieser Edelsorte wird man jede weitere Aufführung des „Boléro“ mit noch mehr Strenge als bisher unter seine Gehörlupe nehmen, und sich in überschwänglichen Lobeshymnen an die sagenhafte Vollständigkeit des Auftritts der Gäste aus Südafrika während des FITS 2018 erinnern.

In einer 70-minütigen Choreografie extrahierten die Gäste aus dem Land der ehemaligen Apartheid-Diktatur dem „Boléro“ eine mit einer hohen Dosis Fatalismus getränkte künstlerische Aussage, deren Wirkung durch lebendige Musik im Selbstmodus auf ursprünglichste Art und Weise sogar noch verstärkt wurde. Aus dem dunklen Nichts trat ein Tänzer der Vuyani Dance Company zu Beginn der Vorstellung auf die Bühne. In beschwerlich schleichendem Rhythmus gab er einen authentischen Klagegesang zum Besten, dessen melodische Struktur Ravels „Boléro“ annähernd vorwegnahm. Dieser Tänzer interpretierte die Rolle des unvergesslichen Südafrikaners Toloki, der im 1995 herausgegebenen Roman „Ways of Dying“ (Arten des Sterbens) des Autors Zakes Mda auf unzähligen Begräbnissen während der Übergangszeit vom Apartheid-Regime zur Demokratie mit transzendentalen Tönen das Sterben besingt und ihm den weltlichen Schmerz zu nehmen versucht. Derselbe Toloki taucht zehn Jahre später in der lyrischen Fortsetzung „Cion“ des Romans „Ways of Dying“ erneut auf. Auf der Hermannstädter Bühne wurde er von acht ebenso begabten Tänzern und einer Gruppe trommelnder, singender und skandierender Tänzer begleitet, die den menschlichen Herdentrieb und die Sogwirkung des „Boléro“ simultan durch ein und denselben beschleunigenden Kanal trieben. Das kollektive Aufstampfen im perkussiven „Boléro“-Rhythmus und die live interpretierte Perpetuum-Mobile-Melodie in der Inszenierung des südafrikanischen Gastensembles finden derzeit in der heimischen Kulturlandschaft Rumäniens noch keine an künstlerischer Ganzheit vergleichbare Entsprechung.

Überhaupt keine künstlerische Aufwertung erfuhr Hermannstadt am Sonntagnachmittag, dem 17. Juni, während des eineinhalbstündigen Auftritts des Tanzensembles „De Sangre y Raza“ Flamenco Ballett (Spanien) im Großen Saal des Ion-Besoiu-Kulturzentrums. Zwar tönte anfangs aus den Lautsprechern die iberische Farbe des H-moll von Gitarre, Oboe und Violoncello noch durchaus anziehend, doch blieb nach der ersten Viertelstunde jede weitere Überraschung komplett aus. Mit zunehmender Vorstellungsdauer sowie aufgrund hoher Lautstärke wirkte die Musik vom Band gleichfalls störend. Viel zu gering die choreografische Variation des Gastensembles, das nebst Kastagnetten und der in Spanien patriarchalischen Geschlechtertrennung so gut wie keine interessanten Kunstaussagen auf Lager hatte. Frappierend lächerlich zudem, dass die Bewegungsmuster etlicher Solotänzer und der Rhythmus der Hintergrundmusik keinen gemeinsamen Reim ergaben und man es sich nur aus reiner Höflichkeit nicht herausnehmen wollte, vor Ende der Vorstellung von seinem Zuschauersessel aufzustehen. Noch verwunderlicher, dass diese Quasi-Flamenco-Vorstellung wider Erwarten mit Stehapplaus bedacht wurde. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul – den Spruch dürfte sich das Hermannstädter Publikum zukünftig besser einprägen, wenn ihm die von außen ehrfurchtsvoll aufgesetzte Visitenkarte kulturell zentrierter Gesellschaft tatsächlich etwas bedeutet.

Lang anhaltenden Stehapplaus hätte das Lesekonzert „Terje Vigen“ am Sonntag, dem 17. Juni, in der evangelischen Kirche Hammersdorf verdient gehabt. Im Trio mit Sprecher Daniel Plier, Schauspieler der Deutschen Abteilung des TNRS, hatten Organistin Brita Falch Leutert, Kantorin der Evangelischen Kirchengemeinde A. B. Hermannstadt, und Gabriel Silișteanu, Orchestermitglied der Hermannstädter Staatsphilharmonie, zu einer musikalisch-literarischen Reise in die Meerestiefe skandinavischer Breitengrade eingeladen. In der evangelischen Kirche Hammersdorf, dem Fischerboot des epischen Gedichtes „Terje Vigen“ von Henrik Ibsen und der gleichnamigen, 2003 von Brita Falch Leutert komponierten Suite für Viola und Orgel hätten weit mehr als nur knapp zehn zuhörende Gäste des FITS 2018 eine Möglichkeit erahnen können, wahrhaft ästhetische Kunst zu erleben. Mühelos rezitierte Daniel Plier mit seiner durchsetzungsfähigen Sprechstimme die biografische Dichtung „Terje Vigen“. Macht doch der norwegische Volksheld eine seelische Läuterung durch, die ihm die rachsüchtige Brille sanft von den Augen nimmt. Ein Nachlesen des genannten Epos von Henrik Ibsen ist jederzeit, das erneute Hören der dazu passenden Musik von Brita Falch Leutert wohl nur auf langfristige Anfrage möglich. Anstatt auf das Wiederkehren verpasster Chancen zu hoffen, empfiehlt sich allemal der Aufwand, im Voraus den gesamten Veranstaltungsplan des FITS für sich selbst zu erforschen und in einem Vergleich eigene Prioritäten und Unnötiges gegeneinander auszutarieren.