„Hades. Carpatesca cum figuris“

Inszenierung der Erzählung „Hades“ von Joachim Wittstock in Kronstadt

Carmen Elisabeth Puchianu mit dem in kommunistischen Zeiten höchst subversiven Instrument – der Schreibmaschine.

Joachim Wittstock rezitiert sein Werk „Hades“ bei der Kronstädter Aufführung des Studierendenensembles DIE GRUPPE. Fotos: Sunhild Galter

Im Rahmen einer Veranstaltung des Kulturzentrums „Visssual“ am 5. April in Kronstadt konnte das zahlreich erschienene Abendpublikum einem besonderen kulturellen Ereignis beiwohnen. Auf dem Programm stand die szenische Rezitation der Erzählung „Hades“ von Joachim Wittstock durch den Autor selbst in Verbindung mit der Aufführung von durch diese Erzählung inspirierten Theaterszenen, welche vom deutschsprachigen Kronstädter Studierendenensemble DIE GRUPPE unter der Gesamtspielleitung von Carmen Elisabeth Puchianu auf die Kronstädter Experimentalbühne gebracht wurden. Die originalmusikalische Begleitung des Abends lag in den Händen des Duos „Cristian“, bestehend aus den beiden Kronstädter Musikern Elena Cristian (Violine) und Paul Cristian (Keyboard).


Manch einer der Anwesenden mochte sich noch vor Beginn der Veranstaltung im Hinblick auf deren kryptischen Doppeltitel „Hades. Carpatesca cum figuris“ seine eigenen Gedanken gemacht haben. Was hat Hades, der antike Totengott oder die griechische Unterwelt, mit Figuren zu tun, die zu allem Überfluss auch noch auf Latein daherkommen? Und was ist überhaupt eine Karpateske? In der Tat sucht man in einem Lexikon der bildenden Kunst, der Musik oder der Literatur vergeblich nach diesem Gattungsbegriff, während man etwa im Falle von Arabeske, Burleske, Groteske oder Humoreske dort schnell fündig wird, oft auch in mehreren künstlerischen Sparten zugleich. Der Zusatz „cum figuris“ ist ebenfalls mehrdeutig, da das lateinische „figura“ nicht nur Figur oder Gestalt, sondern auch Bild, Idee, Schatten (eines Verstorbenen), Beschaffenheit, Charakter bedeuten kann, nicht zuletzt auch Symbol oder Redewendung. Wenn man außerdem an den Begriff der Figuralmusik denkt, kommt noch eine weitere Bedeutungsdimension von „figura“ hinzu: die mehrstimmige Ausgestaltung oder melodische Auszierung der cantus firmus genannten Choralmelodie in der Musik vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert.


Der eigentlichen Bedeutung der Titelworte „cum figuris“ mag man sich deshalb am besten über die deutsche Kunst- und Literaturgeschichte nähern, denn die beiden Titelworte spielen zunächst an auf Albrecht Dürers „Apocalipsis cum figuris“, insbesondere auf seine berühmten Holzschnitte wie etwa „Die vier apokalyptischen Reiter“ oder „Die Hure Babylon auf dem scharlachroten Tier“, die allesamt bildkräftig die Schrecken der Endzeit evozieren. Thomas Mann hat dies in seinem Roman „Doktor Faustus“ weitergedacht, indem er seinen Helden Adrian Leverkühn ein Oratorium mit dem gleichlautenden Titel „Apocalipsis cum figuris“ komponieren lässt, welches die Romangestalt Serenus Zeitblom gar als eine „Prophetie des Endes“ deutet. Nicht von ungefähr hat das Kronstädter Musikerduo „Cristian“ als musikalisches Leitmotiv des Theaterabends den Anfang des mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht mit dem Titel „Dies irae“ gewählt, das in seiner gregorianischen Urform immer wieder erklang und die Apokalypse musikalisch dadurch gleichsam in die Gegenwart herüberholte.


Genau dies ist auch der Grundgedanke der Erzählung „Hades“ von Joachim Wittstock, der eigene Urlaubsreminiszenzen der achtziger Jahre aus den Fischerdörfern Jurilovca und Gura Portiței im rumänischen Donaudelta zum Anlass nahm, nach der Wende eine Erzählung auszuarbeiten, die das Ceaușescu-Regime als Unterwelt des Todes und als apokalyptische Welt der Endzeit aufdeckte, entsprechend der Grundbedeutung des Wortes „Apokalypse“. Am Beginn der Erzählung „Hades“ wird man als Leser wie auch als Hörer – denn Joachim Wittstock rezitierte sein Werk im Kronstädter Kulturzentrum „Visssual“, dabei in smarter schwarzer Kleidung auf einem erhöhten Hocker ruhend – auf ein Fährschiff versetzt, das eine touristische Reisegruppe an ein anderes Gestade übersetzen soll. Dieses neue Ufer erweist sich aber als die Unterwelt der eigenen Gegenwart, wo die Grenzwächter mit grasgrünen Uniformen als „Jenseitige, dem Hades Zugehörige“ auftreten, wo das Grenzgelände vermint ist und vereinzelt sogar Sprengungen erfolgen, wo überhaupt alles und jedes Verboten unterliegt. Diese Unterwelt, die aber auch als Zufluchtsgebiet und Rückzugsort rumänischer Geschichte und Volkskultur aufgefasst wird, wird vom herrschenden Regime auf der Suche nach Erdöl durchfurcht und gänzlich umgegraben. Hier lebt die Vergangenheit nicht mehr, ein Ahnherr namens Lipow erscheint als museal präparierte Puppe, während das Porträt des Staatspräsidenten, umrahmt von der Trikolore, auf das dem Lebendigen bloß nachgebildete Ambiente herabschaut. Der „staatlich verordnete Diesseitsglauben“ verhindert und verbietet die quälende Erkenntnis, dass die gegenwärtige Gesellschaft bereits die Unterwelt ist. Am Ende gelangen die Touristen an eine Pforte, die ihnen endgültig den Weg in die schöne neue Welt von „Trans-Burebistum oder Burebistum Inferior“ weist. Hier darf oder muss man sich der Schablone des staatlich verordneten Daseins bedingungslos unterwerfen, wie die Sisyphosgestalt jenes Springers, der Tag für Tag und bis in alle Ewigkeit in vollendeter Sinnlosigkeit auf einem Trampolin unablässig in die Höhe springt, gnädig unterbrochen freilich durch staatlich genehmigte Freistunden und Auszeiten.


Das von Joachim Wittstock ruhig und mit wohliger und warmer Stimme vorgetragene Erzählgeschehen bildete bei der Kronstädter Aufführung einen beabsichtigt scharfen Kontrast zur panischen Aufgeregtheit der Touristengruppe, die sich vor allem in jener Szene zeigte, als die Reisenden entdecken müssen, dass sie, wie die Protagonisten in Jean-Paul Sartres Drama „Huis clos“ (Geschlossene Gesellschaft), unentrinnbar eingeschlossen sind und nie mehr „ins gewohnte Leben zurückfinden“ werden. Die Mitglieder des deutschsprachigen Studierendenensembles DIE GRUPPE brachten ihre mimischen, gestischen, verbalen und choreografischen Parts voller Engagement und Energie auf die Bühne und zum Teil sogar in den Zuschauerraum, wenn sie etwa einzelne Gäste aus dem Publikum dazu aufforderten oder gar anwiesen, das in der Erzählung beschriebene schablonenhafte Leben durch mechanisch wiederholte Tätigkeiten, aufoktroyierte Bewegungen oder verordnete Posen zu imitieren und damit zur theatralischen Erscheinung zu bringen.


Zu den bereits genannten szenischen Elementen (Rezitation, Musik, Theater) gesellte sich bei diesem multimedialen Spektakel auch noch ein weiteres: der Film. Auf die Leinwand, welche die Rückwand der Bühne bildete, wurden immer wieder Videosequenzen projiziert, die einerseits das musikalische Geschehen begleiteten (so wurde etwa das Geflirre der Violintöne durch mückenartiges Bildschirmgeflimmer visualisiert), andererseits das Erzähl- und Bühnengeschehen kommentierten oder auch verfremdeten. So kontrastierten der Karpatenwinter des Videos mit dem Schwarzmeersommer der Erzählung, die bergige Stadt mit der flachen Landschaft, das Festland mit den Wasserflächen der See, der Spielplatz in der Nähe der Kronstädter Kirche St. Bartholomae mit dem Luna-Park von Burebistum. Eine zusätzliche Verfremdung ergab sich dadurch, dass die im Video zu sehende Reisegruppe (die Regisseurin und ihre Schauspieler) über den Supermarkt-Parkplatz draußen auf das Kulturzentrum „Visssual“ zustrebten, in dem sich die szenische Inszenierung von „Hades“ gerade vollzog. Man konnte sich als Zuschauer dadurch auch ein bisschen wie in der Unterwelt fühlen und sich dabei fragen, inwiefern sich Wittstocks imaginäres Burebistum von unserer heutigen Realität unterscheidet.


Mit einem weiteren Kunstgriff stellte die Regisseurin Carmen Elisabeth Puchianu einen Bezug zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart her. Sie schuf eine Rahmenhandlung, die einen Gegenstand zum zentralen Fokus hatte: eine Schreibmaschine. Joachim Wittstocks Gedicht „Reklame für die Tastatur der Schreibmaschine“ aus seinem Lyrikband „mondphasenuhr“ wurde dabei ebenso rezitiert (hinter dem Zuschauerraum wie auch vor der Bühne) wie zugleich der Tatsache gedacht wurde, dass in kommunistischen Regimes, wie das auch in dem im Jahre 2007 mit einem Oscar ausgezeichneten Film „Das Leben der Anderen“ eindrücklich zu sehen ist, Schreibmaschinen einzeln registriert werden mussten, was bei der von der Regisseurin in der Inszenierung verwendeten Schreibmaschine tatsächlich auch der Fall gewesen ist. So bildete die Metapher des Schreibens die reale wie auch erzählerische Klammer für das in der Tat einmalig zu nennende Bühnenstück „Hades. Carpatesca cum figuris“ in der auf Joachim Wittstocks Erzählung „Hades“ basierenden multimedialen Kronstädter Inszenierung unter der Gesamtleitung von Carmen Elisabeth Puchianu.