Handwerk als künstlerisches Experiment 

Eine Recherche zum Projekt „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“

Die erste Version der endlosen Säule von C. Brâncuși (1920, Paris)

„How & Wow Bask It!“, Adrianus Kundert und Crafts Council Nederland, 2021 Foto: CCN

„Brancusi’s Psychosis Goes Exotic“ aus Makramee, Rattan und Holz von Maddy Arkesteyn, Belgien, 2010

„Reconciliation“ (Versöhnung), Objekte aus Weinreben, Textilien, Plastik von Windelverpackungen von Maia Ștefana Oprea, Creart Galerie Bukarest 2023 Foto: Mihai Ciobanu

„Reconciliation“ (Versöhnung), Objekte aus Weinreben, Textilien, Plastik von Windelverpackungen von Maia Ștefana Oprea, Creart Galerie Bukarest 2023 Foto: Mihai Ciobanu

„Harvester“ von Dan Vezentan (Rumänien), 2022 Foto: D. Vezentan

Tasche aus Gurten von Adrianus Kundert (NL), 2021 Foto: A. Kundert

Das Korbflechten, das ich in meinen letzten Artikeln behandelt habe, ist ein Nischenhandwerk geworden, das nur eine kleine Gruppe von Kreativschaffenden ausübt. Es wird als Ergebnis eines schöpferischen Prozesses und als ein Kulturprodukt angesehen. Diese Entwicklung haben viele traditionelle Handwerke durchgemacht, von der Weberei und Stickerei über die Keramik bis zum Holzhandwerk.  

Für Künstler und Designer jedoch üben traditionelle Handwerkskünste schon lange eine besondere Anziehungskraft aus. Sie stehen als Symbol für eine authentische Handarbeit und der Verwendung von natürlichen Materialien. Der Bildhauer Constantin Brâncuși (Hobița, 1876 - Paris, 1957) gilt dabei als großes Vorbild. Sein Stil war von der rumänischen Volkskunst beeinflusst. Mittlerweile sind seine Skulpturen auf der ganzen Welt bekannt.

Brâncuși wird Ende des 19. Jahrhunderts in einem kleinen Karpatendorf in Rumänien geboren, das nicht mehr als ein paar Hundert Einwohner hat. Er studiert in Craiova und Bukarest, bevor er sich 1904 in Frankreich niederlässt. Die traditionellen Handwerke der rumänischen Dorfbewohner haben ihn da schon merklich geprägt.

Jahre später führt Brâncuși die Technik der „direkten Schnitzerei“ ein, indem er Stein oder Holz unmittelbar und ohne künstlerische Vorlage bearbeitet. Außerdem baut er Möbel, Haushaltsgeräte und Werkzeuge – eine Spinnrocke, einen Ofen, Lampen und Senkbleie. Zusammen mit seiner bildhauerischen Kunst verschmelzen diese Gebrauchsgegenstände in seiner Pariser Werkstatt zu einer Einheit. Bis zu seinem Tod wird er sein Atelier, gelegen an der Impasse Ronsin Nr. 11,  zum Gesamtkunstwerk umbauen.

Die Zusammenführung von Handwerk, Kunst und Design formt eine wichtige Inspiration für Kreativschaffende aus verschiedenen Disziplinen. Hinzu kommt, dass in Zeiten von Klimakrise und Slow Living die Handarbeit mit natürlichen Materialien wiederauflebt. Kreativschaffende zitieren das Handwerk in ihren Werken oder experimentieren mit handwerklichen Techniken und Werkstoffen. Dabei finden sie es wichtig, die Natur zu respektieren und nachhaltig zu produzieren. Es wird nur soviel pflanzliches Material verbraucht, wie nachwachsen kann, oder recyceltes Material verwendet.

Die rumänische Künstlerin Maia Ștefana Oprea kam über Materialerkundungen von Papier-, Plastik- und Textilstreifen zum Korbflechten. Sie hat eine Faszination entwickelt für die Wiederverwendung von Abfallprodukten – der Farbe, Textur und Haltbarkeit von Kunststoff, plastifiziertem Karton und dünnem Dosenblech. Im Garten ihres Hauses auf dem Land lagert sie bis zu hundert Kilogramm Plastikabfall, den sie die letzten zehn Jahre zusammengetragen hat. Der Künstler Samir Mihail Văncică hat dafür eigens einen Lagerraum gebaut. „Das Wichtigste in meinem künstlerischen Prozess ist, dass ich all die künstliche Materie, die sich in unserem Haushalt ansammelt, ‚verdauen‘ kann, als ob meine Kunst eine Maschine wäre, um das Hässliche in schöne Dinge zu verwandeln“, sagt Maia Ștefana Oprea.

Die Kunst von Maia Ștefana Oprea wird gespeist durch eine experimentelle Dynamik zwischen einem riesigen Permakultur-Garten, dem Recycling-Depot, ihrem Kunstatelier und dem privaten Haushalt, in dem sie ihren Kindern Hausunterricht erteilt – ein fortwährendes Geben und Nehmen von Inspiration und neuen Ideen für die Kunst und eine nachhaltigere Lebensweise.

Diesen Ansatz versucht Oprea auch im Garten der Ideen/Gradina Ideilor in Nucșoara zu verwirklichen. Geplant ist ein künstlerisches Gemeinschaftsprojekt, das  Kreativen an der Schnittstelle von Kunst, Nachhaltigkeit und Permakultur eine Plattform bietet. Die Residenz inmitten eines großen Gartens im Fogarasch-Gebirge bietet Raum, im wahrsten Sinne des Wortes, um Kunstparadigmen in Hinblick auf eine nachhaltigere Zukunft zu überdenken. Idealerweise sollen hier neue Ideen und Methoden entwickelt werden, wie man „nachhaltig“ Kunst produzieren und vermitteln kann.

Wichtig für die Arbeit der zeitgenössischen „Handwerker“ und die Erhaltung von traditionellen Handwerken ist eine systematische Förderung von kreativen nicht-staatlichen, aber auch staatlichen Organisationen.  

Da ich seit über 20 Jahren in den Niederlanden arbeite, verfolge ich die Arbeit des Crafts Council Nederland (CCN/Plattform für Handwerke) aus der Nähe. Der Verein ist der wichtigste Initiator, Inspirator und Vermittler für traditionelle Handwerksberufe im Land. Er wirbt für die Aufwertung des kreativen Handwerks und für den Erhalt von Handwerkstechniken. Dass in den Niederlanden das Experiment großgeschrieben wird, schlägt sich un-übersehbar in seinen Initiativen nieder.In seinem Jahresprogramm „Bask It!“ (2021) erkundete der CCN in interdisziplinären Projekten, Ausstellungen und Workshops neue Anwendungen, sowie den sozialen Kontext des dreidimensionalen Flechtens. Der niederländische Designer Adrianus Kundert kuratierte für diese Gelegenheit eine Ausstellung. Er selbst erforscht die gestalterischen Möglichkeiten des Handwerks in seiner Praxis und in dem von ihm mitgegründeten Basketclub. In seinen Projekten bindet er die Flechtkunst, die eine langsame, zeitintensive Handlung fordert, in neue Kontexte und Produktionsprozesse ein.

Neue Kontexte für handwerkliche Produkte erschafft auch der Künstler Dan Vezentan. Er wuchs in einem landwirtschaftlich geprägten Umfeld in der Maramuresch, auf, wo der Umgang mit Landmaschinen und Tierhaltung zum Alltag gehörte. In seiner Skulptur „Harvester“ (Erntemaschine) hat er 90 Weidenkörbe in eine übermannshohe Skulptur modelliert. Die Körbe wechselten dabei ihre Rolle, verwandelten sich vom Gefäß für Lebensmittellagerung zu einer riesigen Getreidekugel, die durch Rollen aktiviert werden kann. Diese neue Landmaschine sammelt die Getreidepflanzen ein, verteilt sie aber auch gleichzeitig. Dan Vezentan arbeitete dabei mit der Korbflechterei Gyana in Cernica zusammen – dort wurden die traditionellen Körbe geflochten. Die Erntemaschine illustriert damit auch die Verwandlung des handwerklichen Produktes vom Gebrauchsgegenstand zum künstlerischen Objekt.

Die zeitraubende Arbeit, die zum Wesen aller Handwerke gehört, thematisierte die Künstlerin Maddy Arkesteyn (1966-2012) wie kein anderer in ihrem Langzeitprojekt „Brancuși’s Psychosis“ (2002-2010). Es ist ein Verbund verschiedener Kunstwerke, die alle im Dialog mit Constantin Brâncușis „Endloser Säule“ stehen. Maddy Arkesteyn kreierte die Makramee Arbeiten in Hunderten von Stunden meditativen Knüpfens. Dabei verschloss sie sich bewusst vor der Welt, gab Kontrolle ab an die wiederkehrenden Handlungen und die erforderlichen Regeln, die die Handarbeit vorgab. Arkesteyn setzte es sich als Bildhauerin zum Ziel, sich in ihren Arbeiten zu verlieren. Dass man durch ihre Makramee-Säulen hindurchschauen konnte, in ihnen stehen konnte, empfand sie als einen großen Mehrwert der Skulpturen. Die Makramee-Technik, die als Handarbeitshobby von Hausfrauen bekannt wurde, setzt sie bewusst als „ein Akt des Widerstands“ ein, um das Dekorative zu ironisieren. Die Säulen bekommen dadurch ein frauliches Potenzial und hinterfragen die klassische, kunsthistorisch etablierte Bildhauerarbeit. 

Maddy Arkesteyn knüpft straßentaugliche Alltagsgegenstände in die Säulen hinein und holt damit die unantastbare Bildhauerkunst buchstäblich vom Sockel. Die Makramee-Fäden werden an ihren Enden nicht verknüpft und hängen zu Boden – die Skulpturen belieben so nach allen Seiten „unendlich“ – offen. Für Arkesteyn war das Bildhauern eine philosophische Art der Wahrnehmung. Als sie schon lange als Künstlerin arbeitete, fing sie an, zusätzlich Philosophie zu studieren. Ihrer Abschlussarbeit gab sie den Titel „Der Zusammenhang zwischen Begehren und Kontrollverlust“. Es bringt ihr Werk auf den Punkt und drückt gleichzeitig die Quintessenz des handwerklichen Arbeitens aus.


Gerlinde Schuller ist eine aus Siebenbürgen stammende Designerin und Journalistin (ADZ, 8. 9. 2023, „Siebenbürgisch-sächsisches Handwerk als Vermächtnis für die Zukunft“). Im Rahmen ihres Projekts „Unser Handwerk ist unser Vermächtnis“ sind in der ADZ  erschienen: „Korbflechten – eine kulturelle Technik“ (15. 9. 2023) und „Von Körben träumen“ (27. 10. 2023). Mehr Informationen über Gerlinde Schullers Projekt (auf Deutsch) auch auf: archiving-family-memories-and-dreams.net