Keinmal Liebe und vielmals Tod

Zur Neuinszenierung von Dvoráks „Rusalka“ in Hannover

Der Chor der Staatsoper Hannover im zweiten Akt von „Rusalka“
Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture

Von der unmöglichen Liebe eines Wasserwesens zu einem Prinzen erzählt Antonín Dvoráks neunte und erfolgreichste Oper „Rusalka“ – in einer Tonsprache, die von geflüsterter Zärtlichkeit über Wutausbruch und Drohung bis hin zu quälender Verzweiflung reicht und eindrucksvoll die Seelenregungen gescheiterter Leidenschaften einfängt. In der Neuinszenierung von Dietrich W. Hilsdorf auf der Bühne der Staatsoper Hannover rücken Tragik, Ausweglosigkeit und existenzielle Ängste in den Fokus.

Aus Liebe möchte Rusalka das Wasserreich verlassen und ins Leben zurückkehren. Sie nimmt Menschengestalt an, um mit ihrem geschätzten Prinzen zusammensein zu können, muss aber einen belastenden Preis zahlen: In der Welt der Menschen ist sie stumm, was den Prinzen stark verunsichert und ihn in die Arme einer anderen Frau treibt. Zu spät erkennt er Rusalkas Gefühle und muss deshalb ihre todbringende Umarmung empfangen. Soweit die Textgrundlage von Jaroslav Kvapil, die Dvorák mit großzügigem Lyrismus, liedhafter Melodik, durchkomponierten Szenen und wiederkehrenden Motiven zu einem Meisterwerk erhebt.

Mit dem traditionellen Interpretationsrahmen der Oper – zartes Mondlicht, Bühnennebel, Nixen, die in einem geheimnisvollen Wald am Wasserrand leben, Hochzeitsvorbereitungen in einem prachtvollen Schloss – hat Hilsdorfs Inszenierung in Hannover nicht das Geringste zu tun. Keine Spur von paradiesischer Natur und märchenhafter Idylle. Die Handlung spielt am 31. März 1901 (dem Tag der „Rusalka“-Uraufführung) im Schloss Orloc. Freunde des frühen Horrorfilms wissen, dass es sich dabei um die Residenz eines gewissen Grafen Orloc (oder Orlok) aus den Karpaten handelt, einer Filmfigur, die große Ähnlichkeit mit Bram Stokers Dracula aufweist und im Stummfilm „Nosferratu – Eine Symphonie des Grauens“ von Friedrich Wilhelm Murnau (1922) verewigt wurde.

Rusalkas Wasserreich ist in der Vision des Opernregisseurs ein düsterer Anatomieraum, in dem Frauenleichen aufbewahrt werden – Hilsdorf spielt damit auf die slawische Mythologie an, wo die „Rusalken“ Geister ertrunkener Frauen sind, die als Kindes- und Selbstmörderinnen, Opfer von Vergewaltigungen und traumatischen Erlebnissen aus dem Leben scheiden. Das Bühnenbild (Dieter Richter) wirkt beklemmend: lauter weiße Totenmasken hängen an den Backsteinwänden, auf Totenbahren liegen nackte Körper, in Formalinbehältern sind Embryos zu sehen. Die „Leichen im Keller“ dominieren die gesamte Handlung, die Menschenwelt ist im dreistündigen Werk nur etwa zu einem Drittel der Zeit präsent. Verbunden sind die beiden Ebenen durch eine Wendeltreppe, auf der sich die Figuren hinauf- und herabbewegen.

Der Prinz verliebt sich nicht unmittelbar in Rusalka, sondern symbolisch in ihre Totenmaske, was von vornherein seinen späteren Tod erahnen lässt. Das Schloss entbehrt jeden Glanzes, kein Sonnenstrahl, kein Glücksschimmer dringt durch die dicken Mauern. Zum Schluss der Oper stirbt Rusalka noch einmal, sodass der dritte Akt lediglich eine bedrückende Variation des ersten darstellt. Der einzige Farbtupfer, die Hochzeitsgäste im zweiten Akt, lassen das desolate Bild nur noch hoffnungsloser erscheinen.

Die Seelenwärme, die aus dem Bild gänzlich fehlt, findet sich zum Glück reichlich in der Musik wieder. Eine absolute Meisterleistung gelang am 18. Oktober der litauischen Sopranistin Sandra Janušait, die anstelle der erkrankten Sara Eterno die Titelpartie sang. Sehr glaubwürdig besang sie ihr tragisches Schicksal, nur „halber Mensch“ zu sein und nicht wirklich leben zu können. Eindringlich war die berühmte Arie „Mesícku na nebi hlubokém“, bei der sie eine intime, hypnotische Stimmung schuf, um dann mit ungewöhnlicher Kraft das Gebet an den „Silbermond“ zu sprechen. Dirigentin Anja Bihlmaier ließ die harten Orchesterpassagen erschütternd den Nixengesang unterbrechen und das spätere Unheil vorausdeuten.

Hervorragend war auch Tobias Schabel als Wassermann mit seiner gewaltigen Stimme und dem väterlich-allmächtigen Auftritt. Sein wiederkehrender Warnruf „Trostlose, bleiche Rusalka, wehe, wehe!“ prägte sich dem Zuhörer nachhaltig ein, das kantable Lied im zweiten Akt berührte das Herz. Die helle, strahlende Stimme des Tenors Andrea Shin kontrastierte auf angenehme Art mit den sonst sehr erdigen, eindringlichen Timbres der Besetzung. Khatuna Mikaberidze war als Hexe Ježibaba ausgezeichnet. Das Niedersächsische Staatsorchester spielte mit Großzügigkeit die vielen, wunderbaren Instrumentalpassagen, die Rusalkas Sprachlosigkeit, die Zerrissenheit des Prinzen zwischen zwei Frauen, den Zauber des Wasserreichs und – als Gegensatz dazu – die artifizielle Schlossgesellschaft untermalen.

Der Versuch, ein Libretto umzudeuten, die Opernhandlung in einen neuen Kontext zu setzen, ist fast immer mit einem Risiko verbunden. Hilsdorfs gewagte Lesart der „Rusalka“ schafft eine interessante Annäherung an die Gattung Film und lockt den traditionellen Opernfreund ganz sicher aus der Reserve und das ist auch gut so. Das Reich der Toten ist von viel Frontalgesang gekennzeichnet. Bilder wie die nackte Leiche einer schwangeren Frau, ungeborene Kinder, Formalingläser, hinkende Spukgestalten wachsen in Verbindung mit dem kalten, blauen Licht (Elana Siberski) zu einem Superlativ des Todes zusammen – und so viel Tod ist nicht leicht zu ertragen. Auch wirken einzelne Szenen zu makaber für ein „lyrisches Märchen“, etwa der Tod des Prinzen, der auf der Bahre „Ich sterbe glücklich in deinen Armen“ singt, während Rusalka ihm ihre Totenmaske aufs Gesicht presst. Trotzdem – oder gerade deshalb – überzeugt die Darstellung der Geschichte zweier Liebenden, die buchstäblich Welten entfernt sind. Gewaltige Klangbilder und reiche Farbenpracht fürs Ohr erfreuen umso mehr.