Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit

Internationaler Germanistikkongress in Kronstadt

Zahlreiche Vorträge, eine Buchvorstellung und Theater – der Kronstädter Germanistikkongress war auch in diesem Jahr eine hervorragende wissenschaftliche Veranstaltung.

Am zweiten Aprilwochenende fand in Kronstadt ein wissenschaftlicher Kongress statt, der von der Germanistikabteilung der Kronstädter Transilvania Universität in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR) veranstaltet wurde und an dem zahlreiche Sprach-, Literatur- und Übersetzungswissenschaftler aus mehreren Ländern mit einem breiten Spektrum von Vorträgen teilnahmen. Das Thema des Kongresses lautete: „Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der deutschen Kultur, Literatur und Sprache“, und alle Kongressteilnehmer begaben sich in ihren Vorträgen und Diskussionen auf Spurensuche nach Genderkonstruktionen in literarischen, linguistischen und kulturellen Forschungsfeldern.

Präludiert wurde das Programm des Kongresses durch eine Buchpräsentation in der Kronstädter Buchhandlung „Okian“. Carmen Elisabeth Puchianu, Germanistin, Schriftstellerin, Bühnenkünstlerin, Leiterin der Kronstädter Germanistikabteilung und Geschäftsführende Präsidentin der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens, las im Beisein eines zahlreichen Publikums aus ihrem neuesten wissenschaftlichen Werk mit dem Titel „Roter Strick und schwarze Folie. Postmoderne Theateradaptionen auf den Leib geschrieben“. Der mit viel Applaus bedachten Lesung gingen drei einführende Kurzvorträge der Germanistinnen Roxana Nubert und Delia Cotârlea sowie des Dekans der Philologischen Fakultät der Transilvania Universität Adrian Lăcătuş voraus.

Das eigentliche Tagungsprogramm begann dann am darauf folgenden Morgen, nach einer schönen musikalischen Einstimmung durch Elena Cristian (Violine) und Paul Cristian (Klavier), mit zwei Plenarsitzungen, in denen das Tagungsthema eindrücklich entfaltet wurde. Auf einen theoretisch grundlegenden Vortrag der in Luxemburg und Trier lehrenden Geschlechterforscherin Christel Baltes-Löhr folgten zwei literaturwissenschaftliche Vorträge über Herta Müller: Der an der Selçuk Universität im türkischen Konya tätige Yüksel Gürsoy sprach über Sexualität im Werk Herta Müllers, und die Temeswarer Herta Müller-Spezialistin Grazziella Predoiu referierte über Weiblichkeitsdarstellungen in den Texten der Literaturnobelpreisträgerin aus dem Banat. Weitere Vorträge von Roxana Nubert (Temeswar), Veronica Buciuman (Großwardein) und Sunhild Galter (Hermannstadt) befassten sich mit Frauenfiguren und Weiblichkeitskonstruktionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Richard Wagner, Eginald Schlattner, Judith Schalansky), während Carmen Elisabeth Puchianu (Kronstadt), die den gesamten Kronstädter Kongress initiiert und organisiert hatte, über das Androgyne im postmodernen Theater referierte.

Die Tagungsarbeit wurde dann am Nachmittag in zwei getrennten Sektionen fortgesetzt. Die sprachwissenschaftliche Sektion widmete sich dem Tagungsthema unter einer Vielfalt von Gesichtspunkten. Sigrid Haldenwang (Hermannstadt) stellte siebenbürgisch-sächsische Mundartbelege zu ländlichen Frauen- und Männergestalten vor, während Doris Sava (Hermannstadt) einen lexikografischen Blick auf das „Mauerblümchen“ im Kontext geschlechtsrestriktiver Phraseologismen in bilingualen Wörterbüchern (rumänisch-deutsch) warf. Mihaela Parpalea (Kronstadt) behandelte die Frage „Wie kommen Frauen in der Sprache vor?“, und zwar vom mittelhochdeutschen wîp bis zur modernen Quotenfrau, während Veronica Câmpian (Klausenburg) der Fragestellung nachging, ob Männer und Frauen, wenn man geschlechtsspezifische Unterschiede in Wortwahl und Syntax in den Blick nimmt, eine andere Sprache sprechen. Das Problem sprachlicher Höflichkeit resp. Unhöflichkeit zwischen Frauen und Männern wurde von Ionela Duduţă (Konstanza) linguistisch untersucht, während Bogdana Crivăţ (Craiova) über Genuszuweisungen von substantivischen Anglizismen im aktuellen Deutsch, z. B. der Account, die Cloud und das Hashtag, nachdachte. Es folgten dann noch weitere Vorträge von Maria Muscan (Konstanza), Hermine Fierbinţeanu (Bukarest), Nicoleta Gheorghe (Bukarest), Ana Andreea Dovgan (Bukarest) und Sofiana Chiriacescu (Kronstadt), die, zumindest ihren Titeln nach, einen lockereren Bezug zum Rahmenthema des Kongresses aufwiesen.

Die literaturwissenschaftliche Sektion des Kronstädter Germanistikkongresses beschäftigte sich mit unterschiedlichen Aspekten von Genderkonstruktionen in einer Diversität von Texten. Cezara Huma (Jassy) befasste sich mit Weiblichkeitsentwürfen in Sigmund Freuds psychoanalytischen Texten zum Fall der hysterischen Patientin Ida Bauer, der auch unter der pseudonymischen Bezeichnung „Fall Dora“ Bekanntheit erlangte. Frauengestalten in der Kurzprosa Gabriele Wohmanns waren das Thema Alexandra Nicolaescus (Bukarest), während Carmen Iliescu (Bukarest) über textproduktive Männerphantasien als Objekt literatur- und kulturgeschichtlicher Überlegungen, insbesondere im Hinblick auf das Mittelalter und die Romantik, nachdachte. Die literaturwissenschaftliche Sektion klang aus mit einem Beitrag von Delia Eşian (Jassy) über das unvollendete Buchmanuskript des 1991 verstorbenen Schweizer Schriftstellers Max Frischs, das posthum unter dem Titel „Ignoranz als Staatsschutz?“ veröffentlicht wurde und interessante Fragen zur geheimdienstlichen Überwachung von Intellektuellen in der Eidgenossenschaft aufwirft, sowie mit einem Beitrag der zurzeit in Konstanza tätigen österreichischen Praktikantin Magdalena Zehetgruber, die über die Gattung „Road Movie“ am Beispiel des Films „Vincent will meer“ referierte.

Zwei Sektionen zur Landeskunde und zur Didaktik des Deutschen als Fremdsprache (DaF) sowie zur Übersetzungswissenschaft beschlossen den Kronstädter Germanistikkongress. Delia Cotârlea (Kronstadt) sprach über Frauenbilder in DaF-Lehrwerken und Laura Manea (Kronstadt) machte sich Gedanken über Geschlechterrollen in der Landeskundevermittlung. Daniela Vladu (Klausenburg) beschäftigte sich mit sprechenden Namen in rumänischen Geschichten und Märchen unter dem Aspekt ihrer Übersetzbarkeit ins Deutsche und Ioana Andreea Diaconu (Kronstadt) befasste sich abschließend mit Fußnoten und ihrem Einsatz in literarischen Übersetzungen.

Nicht der Schlusspunkt, aber ein besonderer künstlerischer Höhepunkt des Kongresses war die Premiere eines Theaterstücks, mit der das deutschsprachige Kronstädter Studierendenensemble DIE GRUPPE sein zehnjähriges Bestehen feierte. Das im Kronstädter Kulturzentrum Redoute uraufgeführte Werk “Orpheus und Eurydike tanzen in der Unterwelt. Das Finale“ aus der Feder, mit Beteiligung und unter der Regie von Carmen Elisabeth Puchianu rundete den hervorragend organisierten Germanistikkongress in Kronstadt gelungen ab, zumal dieses Bühnenstück das eingangs präsentierte Buchwissen über postmoderne Theateradaptionen künstlerisch kreativ in die Tat umsetzte. Das germanistische Publikum freut sich jetzt schon auf den nächstjährigen Kronstädter Kongress, bei dem dann das zwanzigjährige Jubiläum dieser wissenschaftlich hochwertigen Tagungsreihe gefeiert werden kann.