Kulturhauptstadt Temeswar 2023: Großes „Gurrelieder“-Konzert im September

Gespräch mit Philharmonie-Leiter Ovidiu Andriș und Dirigent Gabriel Bebeșelea

Anfang August wurde im Rosenpark Beethovens „Neunte Symphonie“ unter der Leitung des Dirigenten Gabriel Bebeșelea aufgeführt. Ungefähr 300 Musiker, darunter auch der neue Gemeinschaftschor, traten auf.

Gabriel Bebeșelea, Chefdirigent der George-Enescu-Philharmonie in Bukarest und der Staatlichen Philharmonie „Transilvania“ in Klausenburg/Cluj-Napoca, ist im Jahr 2023 Conductor-in-Residence an der Temeswarer Philharmonie.

Ovidiu Andriș ist der Leiter der Staatsphilharmonie „Banatul“. Fotos: Staatsphilharmonie „Banatul“

Der Temeswarer Gemeinschaftschor feierte Anfang August sein Debüt im Rosenpark. Mehr als 300 Menschen standen auf der Bühne – Mitglieder des „Ion Românu“- Chors, Musiker des Banater Philharmonieorchesters sowie Laien- und Profisänger aus der Stadt. Es war ein ehrgeiziges Projekt im europäischen Kulturhauptstadt, das Teil einer viel größeren Strategie zur Förderung der Musik seitens der Temeswarer Philharmonie im Jahr 2023 ist. Darüber und über andere Projekte sprach ADZ-Redakteurin Andreea Oance mit dem Leiter der Staatsphilharmonie „Banatul“, Ovidiu Andriș, und mit dem Meister und Dirigenten in Residenz im Jahr 2023 in Temeswar/Timișoara, Gabriel Bebeșelea.

Das Debüt des Gemeinschaftschors war ein besonderes Ereignis. Wie war es denn, ein solches Projekt umzusetzen?

Gabriel Bebeșelea (G.B.): Zunächst einmal war es eine große Freude, weil der Zweck der Musik darin besteht, in der Gemeinschaft zu sein – und wie können wir als Musiker die Gemeinschaft besser erreichen als durch die Gründung eines Gemeinschaftschors? Diese Idee entstand, um nicht nur dem Publikum näher zu kommen, sondern auch denen, die sehen wollen, was hinter dem Vorhang passiert, die von sich denken, dass sie singen können und die erleben wollen, was in den Räumen vor und nach den Konzerten passiert. In Rumänien wurde das leider zum ersten Mal gemacht. Ich kann verraten, dass es viele Leute gab, die 100, 200, 300 Mal proben wollten, einfach, weil sie gerne sangen und mit anderen zusammen waren. Die Gemeinschaft bringt Menschen zusammen. Es ging dabei auch um Frieden, deshalb habe ich nicht zufällig Beethovens „Neunte Symphonie“ gewählt, denn im vierten Teil hat Schillers Text, den Beethoven verwendet, zwei grundlegende Ideen. Es ist eine Ode an die Freude im wahrsten Sinne des Wortes, eine Ode an die Freude, zusammen zu sein und auf dieser Bühne zu spielen. Wir, Musiker, nennen diese Sinfonie die Sinfonie der Sinfonien, weil die Musikgeschichte in vor und nach Beethovens „Neunter Sinfonie“ eingeteilt ist. Das hilft auch uns als Musiker, nicht zu vergessen, warum wir Musik machen.

Mehr als 300 Menschen standen gemeinsam auf der Bühne – alle, ob professionelle oder Amateursänger, brachten viel Leidenschaft mit. Wieviele Menschen haben ihr Interesse für einen Gemeinschaftschor in Temeswar gezeigt? Und wie war es für Sie persönlich, an diesem Projekt teilzunehmen?

Ovidiu Andriș (O.A.): Die Proben begannen im Februar und fanden wöchentlich statt. Wir schätzen, dass in diesen Monaten etwa 400 Menschen – von Kindern bis zu Rentnern - die Philharmonie besuchten. Davon stiegen im August etwa 150 Leute innerhalb des Chors auf die Bühne, aber Grund dafür war auch, dass es Sommer war und viele Menschen verreistwaren. Ich denke, dieses Projekt hat ein riesiges Wachstumspotenzial. Wie auch der Meister Bebeșelea sagte, ist es sehr wichtig, dass sich eine Gemeinschaft rund um die Musik bildet und dass man diese Verbundenheit innerhalb unserer Institution spürt. Das Gefühl, Teil eines so großen Orchesterapparats zu sein, ist, denke ich, eines der edelsten Gefühle und Erfahrungen, die es in diesem Moment gibt. Und ich glaube, dass die Leute, die ich in diesem ganzen Probenprozess erlebt habe, mit einer enormen Freude am Singen kamen. Es spielte für sie keine Rolle, was sie singen, sie wollten einfach zusammen sein und Neues lernen.

Der Gemeinschaftschor ist nur eines Ihrer Projekte im Kulturhauptstadtjahr. Großangelegte Konzerte, Gastspieler und Gastdirigenten, die Residenz von Gabriel Bebeșelea. Teile dieses Großprojekts konnten bisher gesehen werden, was folgt noch in diesem Jahr an der Banater Philharmonie?

O.A.: Das nächste Projekt, das in der Tat unser größtes Projekt im Jahr 2023 ist, basiert auf der Kooperation mit der deutschen Stadt Gera, bei dem die Orchester von Gera und Temeswar, die Chöre der beiden Städte, der Chor der Oper, der Chor des Musiklyzeums und der Rutheneum-Chor von Gera gemeinsam ein kolossales Werk aufführen werden: Die Gurrelieder von Arnold Schönberg. Dies ist ein Mammutprojekt, das Meister Bebeșelea angenommen hat, denn es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, sowohl musikalisch, als auch logistisch und menschlich.

G.B.: Als wir mit der Erarbeitung des Konzepts des gesamten Projekts für das Kulturhauptstadtjahr begannen, nahmen wir dieses Werk von Arnold Schönberg als Ausgangspunkt für das, was in der Banater Philharmonie das ganze Jahr über geschieht. Das Werk Schönbergs ist in der Tat eines der bedeutendsten Stücke, die je geschrieben wurden. Es geht nicht darum, viele Leute zusammenzubringen, nur um einer Idee Willen, sondern dieses Werk ist so geschrieben, dass es musikalisch nicht ohne einen Einsatz von Kräften funktioniert, der bis zum Äußersten geht. Deshalb funktioniert diese Partnerschaft zwischen den beiden Partnerstädten Temeswar und Gera in diesem Stück perfekt, weil sie alle musikalischen Kräfte der beiden Städte zusammenbringt. Ausgehend von diesem Stück haben wir uns überlegt, wie wir ein Konzept erstellen können, das alle Konzerte und Projekte in diesem Jahr miteinander verbindet, und wir haben jedes literarische Motiv aus dem Text dieser Gurrelieder genommen und Mikrokonzepte für jedes Konzert in diesem Jahr erstellt.

Welche sind also diese Motive?

G.B.: Das erste Thema der Gurrelieder ist die Natur. Wir haben mit einem Konzert begonnen, das die Natur aus der Perspektive von Belá Bartók und George Enescu beschrieben hat. Das zweite Konzert widmete sich einem anderen Thema, nämlich Wort versus Nicht-Wort. Im ersten Teil des Konzerts haben wir Werke von Richard Strauss und Richard Wagner aufgeführt, die sich auf diese Musik von Schönberg beziehen. Im zweiten Teil war es Richard Wagners „Der Ring ohne Worte“, eine Sinfonie, die in der Tat die Synthese der gesamten Wagner-Tetralogie in anderthalb Stunden ist, in der sich das Orchester musikalisch und klanglich diesem Gurrelied nähert. Es folgte ein weiteres wichtiges literarisches Motiv – die Versöhnung. Zum Thema fand am 2. Juni in der Millenniumskirche ein Konzert statt, wo wir eines der größten Werke aufführten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist: das „War Requiem“ von Benjamin Britten. Mit der Anmerkung: Als wir dieses Requiem planten, hatte der Krieg in der Ukraine noch nicht begonnen, wir hatten keine Ahnung, dass er beginnen würde. Dann wurde das Stück, von einem Schlüsselwerk in dem Konzept, das wir gemacht haben, zu einem wichtigen Stück für die Zeit, in der wir leben, weil dieses Werk dem, was im Krieg passiert ist, einen Spiegel vorhält, damit wir es nicht wiederholen. Danach fand Anfang August das Konzert des Gemeinschaftschors statt. Nun stehen zwei weitere Konzerte, am 28. und 29. September, ebenfalls im Rosenpark, an. Ein Konzert, das der spanischen EU-Ratspräsidentschaft gewidmet ist, wird ebenfalls ein weiteres literarisches Motiv aus den Gurreliedern aufgreifen: Der Mond ist extrem wichtig als Kontrapunkt, als Gegengewicht zur letzten Leitfigur, die sich auf die Sonne bezieht. Zum Abschluss steht innerhalb dieses Projekts etwas, was mir sehr am Herzen liegt: Das Requiem für die Opfer des Kommunismus, das wir am 16. Dezember aufführen werden.

Ein Requiem für die Opfer des Kommunismus in der Stadt der rumänischen Revolution von 1989. Was sieht das Projekt konkret vor?

G.B.: Das Requiem der Revolution soll zum Gedenken an alle Opfer des Kommunismus entstehen. Jede Trauerfeier, jedes Requiem in jeder christlichen Konfession hat sieben Momente, und es gibt sieben Länder, in der 1989 Auflehnungen gegen den Kommunismus stattfanden. Wir haben also je einem Komponisten aus jedem dieser sieben Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ostdeutschland, Ungarn, Bulgarien und Rumänien) den Auftrag gegeben, einen Teil dazu zu komponieren. Das Ergebnis wird am 16. Dezember in Temeswar aufgeführt. Dan Dediu ist der rumänische Komponist. Er ist auch Vorsitzender des rumänischen Komponistenverbands und derzeit der meistgespielte rumänische Komponist im Ausland. Er ist ein äußerst vielseitiger Komponist, der immer die Seele des Zuhörers erreicht. Das Requiem wird in acht Sprachen aufgeführt, größtenteils auf Latein, aber auch auf Tschechisch, Slowakisch, Polnisch, Ungarisch, Bulgarisch, Rumänisch und Deutsch. Das Besondere ist, dass jedes Mal, wenn diese einzelnen Teile aufgeführt werden, der Name „Temeswar“ erwähnt wird, so dass es eine unvermeidliche Förderung der Stadt, der Idee der Kulturhauptstadt und der Banater Philharmonie rund um die Welt geben wird. Für mich ist dies die beste Hommage für diese Stadt. Ich hoffe, dass dieses Requiem die zweite Tradition sein wird, die nach dem Kulturhauptstadtjahr in Temeswar bleibt, nach diesem Gemeinschaftschor, den ich gerne jedes Jahr auftreten sehen würde.

Ovidiu Andriș, wieso haben Sie sich für Gabriel Bebeșelea als Dirigent in Residenz im Jahr 2023 entschieden?

O.A.: Es ist eine große Ehre für mich, mit Gabriel zu arbeiten. Wir kennen uns seit etwa sieben Jahren. Wir sind gleich alt, also jung, und ich habe über die Jahre hinweg engen Kontakt zu ihm gepflegt und habe alle Explosionen in seiner Karriere und die internationalen Orchester, mit denen er auftritt, miterlebt. Was ich sehr schätze, ist, dass Gabriel ein Mensch ist, der immer mit einem Konzept dahinter kommt. Nichts wird gemacht, ohne dass es eine Idee dahinter gibt, ohne die kulturelle Seite und den kulturellen Hintergrund zu kennen, und dafür schätze ich ihn persönlich sehr. Gabriel, oder Meister Bebeșelea, ist aktuell einer der bedeutendsten rumänischen Dirigenten. Er hat eine hervorragende internationale Karriere. Ich bin sehr froh, ihn hier in Temeswar zu haben und eine so ehrliche und aufrichtige Beziehung pflegen zu können, und das alles mit dem Ziel, die klassische Musik in Rumänien zu fördern.

Zurück zum großen Gurrelieder-Konzert am 28. und 29. September: Worauf darf sich das Publikum freuen?

O.A.: Um zu verstehen, wie umfangreich dieses Projekt ist, stellen Sie sich vor, wir haben 400 Leute. Allein die Anreise von 400 Leuten, ihre Unterbringung und all die logistischen Dinge, die hinter diesem Projekt stehen, sind extrem umfangreich. Es war natürlich ein intensiver Prozess im letzten Jahr, all diese Dinge zu organisieren, und jetzt befinden wir uns eindeutig auf der Zielgeraden. Unser Orchester wird in Deutschland proben, wo wir auch zwei Konzerte geben werden, und all diese 400 Leute werden dann nach Temeswar reisen, wo wir wieder ein Probenprogramm im Rosenpark, dem Veranstaltungsort, haben werden. Wir freuen uns darauf, Temeswarer Musikbegeisterte und nicht nur, dort zu sehen.

Vielen Dank für das Gespräch!


Dieser Beitrag wurde durch die Finanzierung „Energie! Kreative Stipendien”, die von der Stadt Temeswar über das Projektezentrum im Rahmen des nationalen Kulturprogramms „Temeswar - Kulturhauptstadt Europas 2023” gewährt wurden, verfasst. Die Erstellung gibt nicht unbedingt den Standpunkt des Projektezentrums der Stadt Temeswar wieder und das Zentrum ist nicht verantwortlich für den Inhalt des Beitrags oder für die Art und Weise, wie dieser verfasst wurde.