Markentaschen, der Madrigal-Chor und das frühere Bukarester Nachtleben

„Ausgabe der Sterne“ von Art Safari

Taschen als Luxusobjekte: eine smaragdgrüne Handtasche aus Samt, mit einem Kuss-Verschluss aus Metall und Edelsteinen (England, ca. 1924)

Die Rotunde des Dacia-România-Palastes bietet eine einmalige VR-Erfahrung eines Madrigal-Konzerts.

Revolutionen finden tagsüber statt, während Putsche die Nacht bevorzugen. „Verschwörung“ von Théophile Alexandre Steinlen, Lithographie auf Pappe

„Nächtliches Stadtbild“ von Henri Visconte, Öl auf Pappe Fotos: die Verfasserin

Art Safari, die größte Kunstveranstaltung in Rumänien, hat seine Herbst-Winter-Saison und zugleich 13. Ausgabe im Dacia-România-Palast (Str. Lipscani Nr. 18-20) Ende September eröffnet. Die „Ausgabe der Sterne“ ist einer historisch und transkulturell eingerichteten Ausstellung mit Taschen im Allgemeinen und berühmten Markentaschen sowie von Promis getragenen Taschen, einer interaktiv und multi-sensorisch gestalteten Jubiläumsausstellung anlässlich der 60. Gründungsfeier des rumänischen Chores „Madrigal“ und einer Ausstellung über das frühere Bukarester Nachtleben gewidmet.

Taschen: Funktion vs. Design


„Bags. Inside-Out“ präsentiert über einhundert Taschen in Zusammenarbeit mit der Mode- und Textilien-Abteilung des Royal Victoria & Albert Museums in London und wird von Dr. Lucia Savi und der stellvertretenden Kuratorin Jessica Harpley kuratiert. Der Entwurf der Ausstellung ist der rumänischen Designerin Diana Nicolaie zu verdanken.

Taschen sind im Grunde genommen nützliche Accessoires zum Transport persönlicher Gegenstände. Daher ist Taschendesign eng mit dem Reisen und Transport verbunden und die meisten stilistischen Änderungen können parallel zur Entwicklung des Güter- und Personentransports beobachtet werden. Als Beispiele dafür stehen alte, solide, jedoch leichte Koffer zum Transport der gesamten persönlichen Garderobe in weiten Entfernungen bis hin zu kleinen Gürtelbeuteln, Hand- und Aktentaschen zum Mitnehmen des Nötigsten auf kleine Distanzen. Kleine asiatische, afrikanische und peruanische zeremonielle Beutel sowie europäische Retikül-Taschen aus Textilmaterial, pflanzlichen Fasern, Holz, Leder, kunstvollem Geflecht von Metalldrähten usw., die mit Perlenstickerei, genähten oder gemalten Alltagsszenen, pflanzlichen und tierischen Motiven prachtvoll verziert sind, erfreuen das Auge.

Standesmarker und Luxusobjekte

Das Aussehen und die Ausstattung der Taschen hat sich zusammen mit den vielfältigen Beschäftigungen und Hobbys der Menschen entwickelt und daran angepasst. Eine Tasche kann nicht nur die dienstliche Identität der Trägerin oder des Trägers verraten, sondern auch den Sozialstand und die soziopolitischen Einstellungen. Daher gelten Taschen nicht nur als Funktionsgegenstände, sondern auch als Standesmarker, Ausdrucksmittel des eigenen Kleidungsstils, Kennzeichen der Angehörigkeit zur Fangemeinschaft einer bestimmten Marke und schließlich als Träger von schriftlichen oder angespielten Botschaften über die persönlichen Einstellungen, Vorlieben und Abneigungen.

Im Gegenteil zu den Militärtaschen und -rucksäcken, deren Form völlig der Funktionalität unterstellt ist und deren Pragmatismus auch in die bürgerliche Mode eindringt, insbesondere im Fall der Sporttaschen, unterwirft sich die Form der Designertaschen nur der Vorstellungskraft ihrer Entwerfer. So kamen die überraschendsten Taschen zustande, die Alltagsgegenständen nachgebildet sind. 

Erwähnenswert wären dabei die nonkonformistischen Taschenformen von „Lait de Coco“, einer vom deutschen Designer Karl Lagerfeld 2014 für Chanel in Form eines Milchkartons entworfenen Schultertasche, der „Spülmittelflasche“ von Moschino 2019, „Spiral“, einer vom japanischen Designer Issay Myake 1991 als schwarzes Korsett stilisierten Handtasche, einer Unterarmtasche von Caponi 1960 in Form einer Zeitschrift, einer seidenen Ananas-Tasche vom Anfang des 19. Jahrhunderts aus Großbritannien, „Fanfare“- einem Entwurf von Irina Laski mit einem metallenen Taschengriff in Form einer Minitrompete, einer eleganten seidenen Handtasche von Emily Jo Gibbs 1996, die eine Rosskastanie mit stacheliger Frucht und Samen darstellt und viele andere.

Vorgestellt wurden all diese Markentaschen nicht nur von Modellen auf dem Laufsteg, sondern auch auf dem roten Teppich durch die Unterstützung von Prominenten. Einige Klassiker wie die Kelly- und Jackie-Taschen von Hermès, beziehungsweise Gucci, wurden zu Ehren der amerikanischen Schauspielerin und späteren Prinzessin von Monaco, Grace Kelly, und der ehemaligen First Lady Amerikas, Jacqueline Kennedy Onassis, benannt. Diese sind ebenfalls Teil der Ausstellung.  

Auch die Wiederverwertung, das Upcycling von Abfallstoffen zu Taschen und Nachhaltigkeit waren ein wichtiges Thema der Taschenausstellung. 

60 Jahre himmlischer Musik

Die Ausstellung „In mehreren Stimmen. Eine Ausstellung himmlischer Musik“ blickt auf die 60 Tätigkeitsjahre des rumänischen Chores „Madrigal“ zurück und wird von dessen Geschäftsführer,  Emil Pantelimon, kuratiert. Der Gründer des Chores war der Komponist und Dirigent Marin Constantin (1925-2011) und sein Geburtstag am 27. Februar gilt seit 2016 als offizieller „Madrigal-Tag“.  

Marin Constantin hat die Königliche Akademie für Musik und Dramatische Kunst sowie die Philosophiehochschule in Bukarest besucht. 1963 rief er den Madrigal-Chor ins Leben, dessen Dirigentenstab er für knapp ein halbes Jahrhundert führte. Marin Constantin hatte auch eine Professur beim Konservatorium und das  Leitungsamt bei der Nationaloper Bukarest inne. 

Im Inland konzertierte der Madrigal-Chor erstmals auf der Bühne des Dramatischen Theaters in Kronstadt/Brașov und machte sein öffentliches Debüt 1964 im Rahmen der dritten Ausgabe des Internationalen Musikfestivals „George Enescu“ in Bukarest. Noch vor der Wende 1989 ging der Chor auf internationale Tourneen in die DDR, UdSSR, Kanada, Frankreich, Japan und sogar dreimal in die USA. 

Chor und Gründer wurden im In- und Ausland mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem „Jean Nussbaum und Eleanor Roosevelt“-Preis im UNO-Palast in Genf, Schweiz, wodurch der Chor als „Botschafter der Freiheit, Hoffnung, und des Friedens“ öffentlich anerkannt wurde, dem „Patriarchatskreuz der Heiligen Synode“ der Rumänisch-Orthodoxen Kirche und dem Nationalen Treudienst-Orden im Rang eines Großoffiziers, die Marin Constantin verliehen wurden, welche auch in der Ausstellung zu sehen sind. 

Ein Preis, der den Namen des Chorleiters und -gründers trägt, wird jährlich seit 2016 an Persönlichkeiten und Kulturanstalten für besondere Beiträge zum rumänischen Kulturleben vergeben. Die zur Schau gestellte Trophäe wurde vom Bildhauer Mihai Băncilă entworfen und stellt Marin Constantins in Messing gegossene Unterschrift dar.

Die Ausstellung erstreckt sich auf 16 Räume. Interaktiv und multi-sensorisch, mithilfe von Kopfhörern, Virtual-Reality-Brillen und anderen Geräten, in einer von Vladimir Turturică signierten Szenografie werden 60 kennzeichnende Bühnen-Kostüme, einschließlich der von Iulia Gherghescu entworfenen Renaissance-Kostüme und der handgemalten Kostüme von Doina Levintza, 70 Schallplatten inklusive das 1966 aufgenommene, unter dem kommunistischen Regime verbotene Weihnachtslieder-Album, die berühmtesten Aufführungen, von Maler Virgiliu Parghel gezeichnete Porträts der Chormitglieder, Musik für schwangere Frauen, ihre ungeborenen Kinder und Babys, Alltagsgegenstände, die dem Madrigal-Chor zu Ehren benannt wurden, bisher unbekannte Informationen über Chor, Gründer und den jungen Chor für Kinder und Jugendliche „Cantus Mundi“ vorgestellt.

Metamorphosen des Nachtlebens

Die dritte Ausstellung „Von vergessenen Ängsten bis hin zu freundlichen Nächten. Metamorphosen des Nachtlebens“ wird in Partnerschaft mit dem Anthropologie-Institut „Francisc I. Rainer“, dem Nationalen Institut für forensische Medizin „Mina Minovici“ sowie dem Bukarester Stadtmuseum organisiert und vom Direktor der letzteren Anstalt, Adrian Majuru, kuratiert.

In der Geschichte gilt das Nächtliche als ein verzerrtes und verkehrtes Bild des Täglichen. Gesellschaftliche Realitäten wie etwa das Betteln, die Landstreicherei, Kriminalität, Prostitution, geistige Umnachtung, Hexerei, Selbstmord usw. gelten als Ausdrucksformen des Nächtlichen. Diese versuchen die Tageswelt auf die Notwendigkeit eines Dialogs und insbesondere eines Verständnisses aufmerksam zu machen, ansonsten droht die Gefahr von sozialen Erdbeben, kulturellen Zusammenbrüchen, verschiedenen Pathologien der Fehlanpassung, des Missverständnisses und der Unwissenheit.

Die Geschichte der nächtlichen Stadt stellt auch eine endlose Konfrontation zwischen den Wünschen unserer verborgenen und Dunkelheit liebenden Seite (der Welt der Kriminellen, Diebe, sozialen Außenseiter) und der Erweiterung alltäglicher Tätigkeiten dar, wofür die Tagesstunden nicht mehr ausreichen, wie zum Beispiel einige Berufe, darunter auch die Freizeitbranche oder ein aktives Sozialleben. Die städtische Umgebung schafft die Voraussetzungen für ein Universum, in dem sich alles in einem kontinuierlichen Zustand des täglichen Lebens befindet, detailliert Adrian Majuru in seinem kuratorischen Text. 

Mit der Herrschaft des Fürsten und späteren Königs Karl I. von Rumänien begann ab 1866 für die rumänische Gesellschaft eine lange Phase der sozialen Sicherheit. Bukarest kennt die ganze Vielfalt an Unterhaltungsorten nach den damaligen Maßstäben der europäischen Großstädte: Kabaretts, Varietétheater, Sommertheater, Sommergärten, Kinos mit Billard- und Bowling-Räumen, Ballsäle für jeden Geldbeutel, Nachtclubs, diverse Bars, Restaurants, Brasserien, Cafés, Terrassen usw. Die nächtliche Unterhaltung als Abwechslung und Erweiterung des täglichen Lebens erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen wahren Aufschwung und geriet dann nach 1947 unter das ideologische Verbot des neuen kommunistischen Regimes.

Die Ausstellung bietet einen Einblick in die sozialen und kulturellen Phänomene, die mit dem Bukarester Zeitgeist und Nachtleben in Zusammenhang stehen oder von ihnen inspiriert sind, anhand einer Sammlung von Fotografien, Gemälden von Henri Visconte, Paul Gherasim, Iosif Iser, Octav B²ncil² inklusive eine Akt-Grafik von Nicolae Tonitza, und überraschendsten Gegenständen von archäologischen Funden auf rumänischem Gebiet, wie etwa antike gefälschte Münzen und griechische Keramik, zu Kuriositäten und Dokumenten wie öffentliche Erklärungen zur Verfluchung und Verzeihung aus dem 18. Jahrhundert, Herausforderungen zum Duell bis hin zu den originalen Silvesterspeisekarten der elegantesten Bukarester Restaurants und Einladungen auf prunkvolle Bälle. 

Art Safari bleibt bis zum 14. Januar 2024 geöffnet und kann donnerstags bis sonntags, von 12 bis 21 Uhr, besucht werden. Jeden Freitag und Samstag finden nächtliche Führungen bei einem Glas Prosecco von 22 bis 1 Uhr statt. Ab dem 27. Oktober werden zwei weitere Ausstellungen eröffnet.

Tickets sind nun mit Preisnachlass beim Eingang und unter www.artsafari.ro verfügbar.