Melodien Rainer Maria Rilkes in Hermannstadt

Freunde deutscher Lyrik lauschten Sprechkünsten von Sibylle Kuhne

Schauspielerin Sibylle Kuhne vermag es, in einer Stunde Literaturvortrag das gesamte Farbspektrum eines halben Jahrhunderts Kulturgeschichte aufleuchten zu lassen. Foto: der Verfasser

Schauspielerin und Sprecherin Sibylle Kuhne, zu Zeiten des Regimes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in der Kleinstadt Delitzsch bei Leipzig geboren und seit 1984 im Köln der wenige Jahre später wiedervereinten Bundesrepublik Deutschland und in der großen Welt lebend, hätte auch in Bukarest, Klausenburg/Cluj-Napoca, Kronstadt/Brașov, Temeswar, Arad, Reschitza oder jeder anderen Stadt Rumäniens auftreten können, wo ein paar zig oder gar Hunderte Deutsch verstehende und praktizierende Personen voneinander wissen und sich regelmäßig zu Veranstaltungen mit Sprache, Geschichte, Theologie, Kunst und Literatur treffen. Hermannstadt/Sibiu kann von Glück reden, Sibylle Kuhne zehn Tage lang als Gast erlebt zu haben. Dem lokalen Deutschen Kulturzentrum und dem Kultur- und Begegnungszentrum „Friedrich Teutsch“ der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) in Hermannstadt gebührt ein großes Dankeschön, das Kinder wie Erwachsene liebend gerne unterschreiben. Sibylle Kuhne hat zwei reguläre Proben des Hermannstädter Bachchors besucht, einer zweiten Schulklasse des Octavian-Goga-Gymnasiums Hermannstadt Hans Christian Andersens Märchen „Das hässliche Entlein“ vorgelesen, lokal und regional erwerbstätigen Kindergärtnerinnen und Grundschulpädagoginnen einen halbtägigen Fortbildungskurs in Sachen Sprecherziehung geschenkt und am Donnerstagnachmittag, dem 4. April, im Terrassensaal des Teutsch-Hauses in vollkommener Eigenregie eine einstündige Hommage an Rainer Maria Rilke (1875-1926) inszeniert.

Die großflächig-schwarzen Fensterabdeckungen des erwähnten Terrassensaales, bis 15. Juni Ort der Wanderausstellung „Das Tobsdorfer Chorgestühl und seine Restaurierung“ (siehe Bericht auf der ADZ-Lokalseite von Donnerstag, dem 4. April), gaben der mit Gedichten, Tagebuch-Eintragungen, Prosa-Auszügen und Briefzitaten aus Rainer Maria Rilkes Gesamtwerk angereicherten Literaturstunde die passgenaue Kulisse. Sibylle Kuhne trat in einem aus chinesischer Seide geschneiderten Gewand dunkler Musterung auf und betätigte an ausgewählten Stationen der Reise durch Rilkes Biografie die Knöpfe eines Abspielgerätes, in das sie ein Sammelalbum mit Flötenmusik des Barock, der Klassik und der Romantik eingelegt hatte. Amerikanische Spirituals fügten sich in die Hommage an den nicht weniger illustren Zeitgenossen der Autoren Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann ebenso gut ein wie Originalwerke und geistreiche Bearbeitungen von Musikstücken aus dem Oeuvre der Komponisten Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Reinecke.

Wie viele ihrer Berufskollegen ist auch Sibylle Kuhne, ihres Zeichens ausgezeichnete Sprecherin und Schauspielerin, eine vielseitig an Literaturgeschichte interessierte Biografin. Regelmäßig tritt sie vor das Publikum, um die Glut nahezu abgebrannter Feuerstellen geschichtsträchtiger Literaturepochen erneut zu entfachen. Im Teutsch-Haus las sie die Gedichte „Vorgefühl“, „Liebeslied“, „Herbsttag“, „Die Stille“, „Die Einsamkeit“, „Das Lied der Witwe“, „Abschied“ und das Poem „Die Blinde“ des Lyrikers Rainer Maria Rilke, der als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke in Prag auf die Welt gekommen war und sich bald unter die Fittiche der russisch-deutschen Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé nehmen ließ. Letztere war biografische Schlüsselperson im Leben eines Sigmund Freud oder Friedrich Nietzsche und führte auch den jungen Rilke durch die große Welt, von Petersburg bis nach Italien. „Wenn Du Künstler werden willst, brauchst Du einen anderen Namen“, sagte sie dem geistig begabten Sohn einer Beamtenfamilie, der sich fortan mit natürlichster Selbstverständlichkeit als Rainer ausgab, auf fünf seiner ursprünglichen Vornamen verzichtete, in Paris Auguste Rodin über die Schulter schauen durfte und eine Monografie über ihn verfasste.

Von Rilke stammt das Zitat „Künstler sein heißt: reifen wie ein Baum“. „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen/die sich über die Dinge ziehen./Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,/aber versuchen will ich ihn.“ Der Genügsamkeit in die Karten spielt auch das Credo von Schauspielerin Sibylle Kuhne: „Belehren wir unser Publikum nicht, begeistern wir es!“

Einen Wermutstropfen gab es in der intensiv besuchten literarischen Feierstunde: Zur Stunde der Hommage an Rainer Maria Rilke im Hermannstädter Kultur- und Begegnungszentrum „Friedrich Teutsch“ der EKR wurde auf dem Fußball-Kleinfeld des „Luceafărul“-Sportzentrums nebenan ein großer Wettkampf junger Männer ausgetragen, deren grölende Verteidigungs- und Anfeuerungsrufe deutlich bis an den Ort des Gedichtvortrags tönten.