Metaphysische Malerei der Moderne

Werke von Giorgio de Chirico und seinen Zeitgenossen in Stuttgart

Giorgio de Chirico: „Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik“, 1916

Seit Mitte März und noch bis zum 3. Juli dieses Jahres ist in der Stuttgarter Staatsgalerie eine Ausstellung zu bewundern, die sich der „Magie der Moderne“ – so ihr Untertitel – widmet, wie sie im Oeuvre Giorgio de Chiricos (1888-1978) zur Erscheinung kam und auf Werke zahlreicher seiner Zeitgenossen ausstrahlte.
Gemeinsam von der Staatsgalerie und der Fondazione Ferrara Arte veranstaltet, sind in Stuttgart derzeit rund einhundert hochkarätige Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken, Objekte, Fotografien etc. von Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, George Grosz, René Magritte, Max Ernst, Man Ray, Oskar Schlemmer, Carlo Carrà, Giorgio Morandi und anderen Künstlern der Moderne zu betrachten. Es handelt sich dabei um Leihgaben des Museum of Modern Art in New York, des Metropolitan Museum of Art, des Centre Pompidou in Paris, der Galleria Nazionale d’Arte Moderna in Rom sowie um zahlreiche Leihgaben aus Privatbesitz. Stolz kann die Staatsgalerie Stuttgart auch, als eines der wenigen Museen in Deutschland, ein Gemälde de Chiricos aus eigenen Beständen präsentieren, und zwar das Bild „Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik“ (1916), das aus der Ferrareser Periode (1915-1918) des italienischen Künstlers stammt, die auch im Fokus der Stuttgarter Ausstellung steht.

Giorgio de Chirico wurde 1888 im thessalischen Volos geboren. Die Familie zog nach dem Tod des Vaters nach München, wo de Chirico an der Akademie der Bildenden Künste, beeinflusst vom Schaffen Arnold Böcklins und Max Klingers, Malerei studierte. Während einer Italienreise im Herbst 1909 erlebte der junge Maler auf der Piazza Santa Croce in Florenz eine künstlerische Offenbarung. Auf der toskanischen Platzanlage, wie wir ihrer im Oeuvre de Chiricos in immer wieder neuen Variationen ansichtig werden, entbarg sich dem Kunststudenten die wahre, metaphysische Natur des erlebten Raumes. Nicht von ungefähr entstand zwei Jahre später in Paris die Bildserie „Piazze d’Italia“, in der de Chirico seine emblematischen, von hohen Arkaden verschatteten, weit in die Tiefe fluchtenden Plätze malerisch in Szene setzte.

1912 wurde de Chirico in die italienische Armee einberufen, entzog sich jedoch dem Dienst an der Waffe bald durch Desertion und Flucht nach Paris. Als Italien im Mai 1915 in den Ersten Weltkrieg eintrat, profitierte de Chirico von einer Amnestie für Deserteure und meldete sich zum Militärdienst zurück, den er bis 1918 im oberitalienischen Ferrara versah. In dieser gestalterisch fruchtbaren Zeit, die ihm auch die Begegnung mit seinem Malerfreund Carlo Carrà bescherte, entstand die für die Kunst der Moderne so bedeutende „Scuola Metafisica“, die auf verwandte Strömungen wie den Dadaismus, den Surrealismus und die Neue Sachlichkeit eine nicht zu unterschätzende Wirkung ausübte, was die Stuttgarter Ausstellung durch ihre thematischen Werkgruppierungen und ihre oeuvreübergreifenden Juxtapositionen auch eindrücklich ins Bewusstsein hebt.

Die Stuttgarter Ausstellung setzt ein mit Gemälden de Chiricos aus seiner Pariser Zeit. Bereits in  „Der beängstigende Vormittag“ (1912), in „Der Frühling“ (1914) oder in dem Gemälde „Die Rückkehr des Dichters“ (1914) zeigt sich die Chiffrenhaftigkeit der Kunst de Chiricos. Dargestellte Sujets – Arkaden, Plätze, Schornsteine, Flaggen, Wimpel, Dampflokomotiven – werden gleichsam zu Wörtern in einem Text, dessen Bedeutung sich nicht unmittelbar, sondern erst einer immer wieder neu einsetzenden hermeneutischen Lektüre erschließt. Wie bei der Rezeption moderner hermetischer Lyrik ist der Betrachter auch hier darauf angewiesen, unter Hinzuziehung mehrerer Werke die Chiffrensprache des Künstlers peu à peu zu entschlüsseln, ja im Entschlüsseln allererst zu erlernen. Die Häufung von Winkelmaßen, Rahmenfragmenten, Gestellen und Konstruktionen führt bei de Chirico durch deren kunstvolle Verschachtelung zur Auflösung von Räumlichkeit, ebenso wie das Spiel mit dem ‚Bild im Bild’ und die bühnenmäßige Inszenierung des Dargestellten zur vertiefenden Aufhebung des Raumes führt.

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das bereits erwähnte Gemälde de Chiricos „Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik“. In seinem Zentrum befindet sich – als Bild im Bild – eine realistisch gemalte, aus der Vogelperspektive präsentierte Ansicht der bei Ferrara gelegenen Fabrik „Fratelli Santini“. Im rechten oberen Bildquadrat öffnet sich ein Fenster hin zu einer Palastanlage, der auf der gegenüberliegenden Seite eine leere Wandfläche korrespondiert. Die Schatten aus dem Fabrikbild setzen sich außerhalb seines Holzrahmens auf dem Arbeitstisch fort, auf dem das Bild aufruht. Die Wahrnehmung des kastenförmigen Arbeitstisches wirkt ihrerseits auf das Bild im Bild zurück, dessen linker Schatten nun plötzlich kantige Tiefe gewinnt.

Vertikale hölzerne Stäbe suggerieren das Vorhandensein einer Staffelei und die über das gesamte Bild verteilten Winkelmaße sowie die geometrisch zugeschnittenen Bretter tun ein Übriges, um die Räumlichkeit in diesem Gemälde aufzuheben, bis hin zur Verkehrung von oben und unten, wenn man den unter dem Fabrikbild liegenden Bleistift in den Blick nimmt. Fantastisches, Supralogisches, Verborgenes wird so in surrealistischer Manier mit scheinbar realistischen Mitteln ans Licht gebracht bzw. allererst erzeugt. Vielfältige Motive lassen sich aus zahlreichen Gemälden de Chiricos herausdestillieren, so etwa der „manichino“, die kopf- oder gesichtslose Schneiderpuppe, oder der aus einer kannelierten Säule herauswachsende Mann, der sowohl in de Chiricos Gemälde „Der Rückkehrer“ als auch in „Die beunruhigenden Musen“ erscheint, wo der Säulenmensch auf dem Platz vor dem Ferrareser Castello Estense gemeinsam mit gesichtslosen, halb versteinerten Musen zu sehen ist.

Die gesamte Stuttgarter Ausstellung tastet sich gewissermaßen von Motiv zu Motiv vor. So erscheint in de Chiricos Gemälde „Der Traum des Tobias“ ein mechanisches Metronom, das wie ein überdimensionaler Obelisk wirkt, wobei das sonst schwingende Pendel bei diesem Metronom wie ein Glasthermometerstab festgeschraubt ist. Das Motiv des Metronoms kehrt dann in zwei Objekt-Werken Salvador Dalís und Man Rays wieder, wo jeweils ein Auge auf das ruhende Pendel montiert oder angeheftet ist. Das Augenmotiv seinerseits taucht dann in de Chiricos Gemälde „Der jüdische Engel“ wieder auf und setzt sich in den Augenbildern Max Ernsts und Filippo de Pisis’ fort sowie in zwei Fotografien von Raoul Hausmann.
Am ausführlichsten ist in der Stuttgarter Ausstellung das ‚Bild im Bild’-Motiv präsentiert. Neben den inspirierenden Gemälden de Chiricos finden sich hier Werke vor allem von René Magritte, der etwa in dem 1933 entstandenen Gemälde „So lebt der Mensch“ dieses Motiv auf die Spitze treibt: Das Bild auf einer am Fenster auf einer Staffelei stehenden bemalten Leinwand geht unmittelbar und bruchlos in die durch das Fenster sichtbare reale Landschaft draußen über. Kunst und Natur werden so eins im Bild im Bild.

Beeindruckend sind auch die Gemälde de Chiricos und Carràs aus jener Zeit, als beide Künstler sich im psychiatrischen Militärkrankenhaus „Villa del Seminario“ zur Festigung ihrer seelischen Gesundheit und ohne militärische Aufgaben aufhielten und Gelegenheit zu gemeinsamen Gesprächen und zu gemeinsamem kreativen Schaffen hatten. Hier ereignete sich die Geburtsstunde der „Pittura Metafisica“, der metaphysischen Malerei, wovon auch das Gemälde „Metaphysisches Interieur mit Sanatorium“ (1917) Zeugnis ablegt. Die Stuttgarter Ausstellung lädt auch dazu ein, weniger bekannte Künstler zu entdecken wie Pierre Roy, Alexander Kanoldt, Gottfried Brockmann oder Nikolaus Stoecklin. Sie zeigt in beeindruckender Weise, wie die modernen Strömungen der Malerei in zahlreichen Motiven und Elementen konvergieren, die von der metaphysischen Malerei exemplarisch entfaltet wurden.