Nordische Nüchternheit und böhmische Lebensfreude

Dvorák, Sibelius und Glanert mit dem Gewandhausorchester unter Gastdirigent Semyon Bychkov

„Res severa verum gaudium“ – Wahre Freude ist eine ernste Sache. Im Großen Saal des Neuen Gewandhauses zu Leipzig glänzen die lateinischen Vokabeln edel-matt auf einem Ehrenplatz am Orgelprospekt.
Foto: Neues Gewandhaus zu Leipzig

Auf das Gewandhausorchester ist Leipzig seit jeher stolz. Die regelmäßigen Konzerte des weltgewandten Klangkörpers im Neuen Gewandhaus am Augustusplatz sind mehr als nur gewöhnliche Abonnement-Veranstaltungen. Auch heute noch strömen 1900 Zuhörende Abend für Abend in den Großen Saal jenes Orchestertempels im Leipziger Stadtzentrum, wo die sinfonischen Konzerte des hauseigenen Ensembles den öffentlichen Ehrentitel „Große Concerte“ tragen. Nach wie vor gibt es nirgendwo in Deutschland und der gesamten Musikwelt ein städtisches Lokalangebot, das einen Vergleich mit der umfassenden Tätigkeitsstruktur des Gewandhausorchesters an Größe und Vielfalt ebenbürtig besteht. Zusätzlich zu der Bühne des Neuen Gewandhauses bespielen die Musiker des Gewandhausorchesters den Orchestergraben der Leipziger Oper und gemeinsam mit den ausgebildeten Knaben- und Männerstimmen des Thomanerchores auch die Empore der Thomaskirche. Die musikalische Innenkapazität des Leipziger Rings ist einzigartig in der Welt.

Als ein Welterbe original Leipziger Ursprungs gilt die dreifach Frieden stiftende Verknüpfung von Musik, Geist und Kirche, wenngleich aus betont protestantischer Perspektive. Doch haben die Biografien von Christian Führer (1943-2014), Pfarrer an der Nikolaikirche, und von Maestro Kurt Masur (1927-2015) einen unschätzbaren Anteil an der Weltoffenheit Leipzigs, das zurecht als Schauplatz der friedlichen Novemberrevolution 1989 in die Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands und der Gegenwart Europas eingegangen ist. Wer das Leipziger Wunder in den Mund nimmt, erhebt im selben Atemzug die kantige Persönlichkeit des Kulturpolitikers Kurt Masur zu einem Non-Plus-Ultra, das alle erfassbare Zeit und Zukunft der Welt schadlos und souverän überdauern wird.

Von der unbegrenzten Hingabe des legendären Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur zehrt Leipzig bis in die Gegenwart. Ohne dessen Interventionen bei zuständigen Staatsabteilungen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wäre der Bau des 1981 eingeweihten Neuen Gewandhauses wohl nicht möglich gewesen. Seine menschenrechtlich unbeirrbaren Vermittlungsfähigkeiten sind in Musiker- und Künstlerkreisen gemeinhin bekannt. Selbst höchste Beamte der kommunistischen DDR-Nomenklatur wagten es nicht, einem Kurt Masur Wünsche auszuschlagen. Mit seiner visionären und zugleich selbstlosen Vorgehensweise hat er wertvollste Karten ausgespielt und so gut wie nie an der falschen Stelle gespart. Der Große Saal des Neuen Gewandhauses mit seiner edlen Akustik steht Beweis dafür.

Gastdirigent Semyon Bychkov und das Gewandhausorchester speisten das musikalische Elitebedürfnis der sächsischen Weltstadt Leipzig am Freitag, dem 7. September, mit der 7. Sinfonie d-Moll op.70 von Antonín Dvorák (1841-1904). Vor der Inszenierung der böhmischen Tonkunst aus der Schmiede des Meisters Dvorák jedoch hatten Musiker und Publikum die Aufgabe zu bewältigen, sich durch die elf Minuten zählende Paraphrase „Weites Land – Musik mit Brahms“ für Orchester des zeitgenössischen Komponisten Detlev Glanert (Jahrgang 1960) an den skandinavischen Horizont des Konzertes für Violine und Orchester d-Moll op. 47 von Jean Sibelius (1865-1957) heranzutasten. Detlev Glanert bietet eine schlüssige Beschreibung des von ihm selbst komponierten Opus an, das am 9. Februar 2014 in Oldenburg uraufgeführt worden war: „Es ist viel Norddeutschland darin, der Brahmsische Geruch von Marschland und großen Himmeln“. Eigentlich erübrigte es sich, nähere Details in dem Programmheft zu erforschen, da die vom Tonsetzer beabsichtigte Querverbindung zu den ersten Takten der 4. Sinfonie von Johannes Brahms deutlich aus dem satten Streicherklang des Gewandhausorchesters sprach. Detlev Glanert betrat unter dem Applaus der Zuhörer eifrig die Bühne, reichte Semyon Bychkov die Hand, und hat bestimmt etlichen Musikfreunden ein tieferes Verständnis für zeitgenössische Kunst vermittelt, da er in einem Interview im Programmheft angibt, was Tradition für ihn persönlich bedeutet: „Boden unter meinen Füßen – aber nicht die Luft zum Atmen“.

Auch die Holzbläsergruppe des Gewandhausorchesters agierte ausgesprochen akkurat und homogen. Vielleicht mag einzelnen Spielern die betörende Klangfarbe oder das spritzige Element in der ein oder anderen Solopassage gefehlt haben, aber an die gleichmäßige Gruppendynamik des Zusammenspiels aller Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte im Gewandhausorchester kommt der Großteil der Klangkörper aus den osteuropäischen Staaten nicht heran. Ein abgedunkeltes Timbre der Rohrblattinstrumente ist auch in Rumänien nicht gültige Norm, in einem Orchester von Weltrang jedoch unverzichtbares Gütesiegel. Die Mitglieder des Gewandhausorchesters beherrschen die Tücken ihrer Instrumente aus dem Effeff und landeten mithilfe ihres einheitlichen Klangspektrums der Bläsergruppen einen verdienten Sieg am kraftraubenden Finale der 7. Sinfonie von Dvorák. Unter der Leitung von Semyon Bychkov trafen die wuchtigen Schlussakkorde den akustischen Nerv des Neuen Gewandhauses. Für den hier ein- und ausgehenden Leipziger sind elektrisierende Wirkungen feiner Orchesterklangspiele nichts Ungewöhnliches, als Gast aber kostet man die energiegeladene Strahlkraft des Großen Saals im Neuen Gewandhaus gerne mit hohem Suchtfaktor aus. Ein Wiederbetreten genau dieses weltberühmten Zuschauerraumes ist schließlich kein Ding der Alltäglichkeit, auch will das Erlebnis, im zweiten Satz „Poco adagio“ der 7. Sinfonie von Dvorák wagnerische Einflüsse zu erkennen, geduldig erfasst werden.

Wie eine unmittelbare Freundlichkeit mit einem stilvollen Anteil adliger Distanziertheit fühlt sich die akustische Eigenheit des Neuen Gewandhauses an. Der Klang bleibt zentriert auf der Bühne, wandert aber stufenlos bis in die letzten Reihen der hohen Publikumsränge hinauf. Hier herrschen architektonische Maßstäbe, die auch leiseste Pianissimi klar und scharf konturieren, man mag auch ganz weit weg vom Platz des eigentlichen Geschehens sitzen. Der Große Saal des Neuen Gewandhauses dämpft kein bisschen ab, und laute Donnerklänge schwirren hier trotzdem nicht mit geisttötender Kraft in Richtung Zuschauerraum. Bach, Mendelssohn und das Gewandhausorchester sind jederzeit eine Reise nach Leipzig wert. Es zeichnet sich nicht ab, dass dieses Mekka der klassischen Musik in Zukunft auch nur einen Hauch an Wert einbüßen könnte.

Das Sibelius-Violinkonzert hätte eigentlich Janine Jansen bestreiten müssen, die aber aus Krankheitsgründen abgesagt hatte. Somit war die Bühne des Neuen Gewandhauses für den jungen Solisten Emmanuel Tjeknavorian frei geworden, der mit makelloser Bogenführung und Intonation aus dem schroffen Violinkonzert von Jean Sibelius ein vollendetes Kunstwerk gestaltete. Auf die Stradivari des 1995 in Wien geborenen Violinisten war Verlass, ganz zu schweigen von der sicheren Begleitung durch das Gewandhausorchester und Routinier Semyon Bychkov. Emmanuel Tjeknavorian unternahm zwecks Zugabe einen mutigen Schritt, indem er die erste Strophe des kurzen Gedichts „Marmotte“ (Das Murmeltier) von Johann Wolfgang von Goethe in der wortlosen Vertonung Beethovens mit Geige und Bogen vortrug: „Ich komme schon durch manches Land, /Avec que la marmotte,/ Und immer was zu essen fand,/ Avec que la marmotte, / Avec que si, avec que lá/ Avec que la marmotte.“ Obschon Leipzig sächsische Weltstadt ist, kann es das stumme Zugeständnis eines Musikers gebrauchen und bestimmt in eine menschenrechtlich pazifistische Richtung ummünzen, da zahlreichen bundesdeutschen und internationalen Berichterstattungen zufolge im Freistaat Sachsen die Vorgaben humanitären Handelns und Miteinanders im öffentlichen Leben derzeit unter unlautere gemeinschaftliche Vergrößerungsgläser geraten könnten. Diese Gefahrenquelle scheint noch nicht gebannt, weswegen auch fähige Künstler der rettenden Absicht zuliebe auf ihr neutrales Betrachten zu verzichten bereit sind.

Die größte Kommunikationsgeste während des Großen Concertes im Neuen Gewandhaus zu Leipzig am 7. September leistete Gewandhaus-Intendant Andreas Schulz, der gemeinsam mit einem Mitglied des Orchestervorstands zu Beginn des Abends die Bühne betrat, ehe das „Weite Land“ des Komponisten Detlev Glanert sich Raum in Leipzig schaffen konnte. Nach eigenen Aussagen stehen der Intendant und der Orchestervorstand des Gewandhausorchesters voll und ganz hinter einer bundesdeutschen Offenheit gegenüber Fremden, Migranten und Einwanderern. Schließlich rekrutiere sich auch ein deutsches Ensemble wie das Gewandhausorchester aus nicht weniger als 20 verschiedenen Nationen und Ländern weltweit. Bei erklärtem Verzicht auf kosmopolitische Herangehensweisen würden auch altgediente Kunsthorizonte deutscher Handschrift all ihren Reiz verlieren. Leipzig schlägt musikalisch Alarm und mahnt zum friedfertigen Verhandeln.