Pädagogik der Solidarität

Erziehungswissenschaftliche Studie von Robert Pfützner in Bielefeld erschienen

Der an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Dr. phil. promovierte Erziehungswissenschaftler Robert Pfützner hat seine im vergangenen Jahr abgeschlossene Dissertation mit dem Titel „Solidarität bilden. Sozialistische Pädagogik im langen 19. Jahrhundert“ vor Kurzem im Bielefelder transcript-Verlag veröffentlicht.

Der 1986 in der DDR geborene Robert Pfützner hat sich nach seinem Jenenser Studium der Geografie, Sozialkunde und Erwachsenenbildung mit pädagogischen Fragen nicht nur historisch und theoretisch auseinandergesetzt, vielmehr kennt er verschiedene Erziehungssysteme aus eigener Anschauung und aktueller Praxis. Auch in Rumänien hat Robert Pfützner pädagogische Erfahrungen gesammelt: im Kindergarten, in der Grundschule und im Gymnasium der Deutschen Schule Bukarest (DSBU), ein Jahr lang sogar als deren Direktor. Als Praktikant bei der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“ (ADZ) und als Lehrbeauftragter an der Universität Bukarest war er in Rumänien zudem journalistisch und wissenschaftlich tätig. An seiner Alma Mater, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, versah er von 2011 bis 2016 pädagogische Lehraufträge, seit 2016 auch an Hochschulen in Wiesbaden, Hildesheim und Darmstadt. Seit dem vergangenen Jahr ist er freier Mitarbeiter am Haus der Kulturen der Welt in Berlin und seit diesem Jahr Pädagogik-Dozent an einer Berliner Berufsakademie.

Die von Robert Pfützner in diesem Jahr vorgelegte erziehungswissenschaftliche Studie bündelt historische und systematische Fragestellungen sozialistischer Pädagogik unter den Begriffen der Solidarität, der Brüderlichkeit, der Gemeinschaftlichkeit und der Gesellschaftlichkeit. Den historischen Rahmen hierfür bildet das sogenannte lange 19. Jahrhundert, also die von den Eckpunkten der Französischen Revolution 1789 und der Russischen Revolution 1917 markierte geschichtliche Epoche. Im Zentrum stehen dabei fünf grundlegende Texte, die Robert Pfützner in den Kapiteln 4 bis 8 seiner Arbeit ausführlich untersucht und auf Theorieansätze für eine künftige Pädagogik der Solidarität hin befragt.

Auf einen ersten Text des Aufklärers und Sozialutopisten Franz Heinrich Ziegenhagen (1753-1806), in dem die Brüderlichkeit der Menschen aufgrund ihrer geschöpflichen Verwandtschaft als Voraussetzung für die zu bewirkende allgemeine Menschenbeglückung beschworen wird, folgen zwei Schriften französischer Publizisten und Sozialrevolutionäre: Étienne Cabet (1788-1856) und Hippolyte Renaud (1803-1874). Beide Denker stellen den Begriff der Solidarität ins Zentrum ihrer Gesellschaftsvisionen, wobei sie Solidarität einerseits als eine durch Erziehung zu vermittelnde soziale Pflicht des Einzelnen begreifen, sich gemeinsam mit den Anderen für die Belange der Gesellschaft einzusetzen, andererseits aber auch als Aufforderung an die Gesellschaft verstehen, dem Individuum die Möglichkeit zu geben, sich solidarisch mit den Anderen selbst entfalten, selbst verwirklichen und vollumfänglich ausleben zu können.

Der vierte der von Robert Pfützner behandelten Grundlagentexte stammt von der deutschen Sozialistin, Pazifistin und Feministin Clara Zetkin (1857-1933), in dem die „Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart“ diskutiert wird, wobei Clara Zetkin feministisch konsequent nicht von Brüderlichkeit, sondern von Solidarität spricht und diese in den gemeinsamen gesellschaftlichen Interessen von Frauen und Männern theoretisch verankert, wobei Solidarität von ihr bemerkenswerterweise nicht nur moralisch als Tugend und kognitiv als Einsicht in das eigene Interesse definiert wird, sondern zudem auch als Ausdruck einer spezifischen Gefühlsqualität. Der letzte der von Robert Pfützner behandelten Texte stammt von dem deutschen Pädagogen und sozialdemokratischen Publizisten Robert Seidel (1850-1933), der Solidarität als staatsbürgerliche Tugend konzipierte, wobei die Identifikation des Individuums mit der den Staat bildenden Nation nicht dem etwaigen Ausschließlichkeitsanspruch dieser Staatsnation willfahren dürfe, sondern dem friedlichen Zusammenleben mit anderen Völkern und Nationen dienen müsse. Ein Text, der angesichts der heutigen globalen Migrationsbewegungen wieder höchste Aktualität besitzt!

Auf diesen historisch orientierten ersten Teil folgt dann in Robert Pfützners Monografie ein systematisch strukturierter zweiter Teil, der sich in drei Kapiteln auf der Basis der behandelten fünf Quellentexte mit Grundfragen sozialistischer Pädagogik auseinandersetzt. Pfützner umreißt die umfassenden Aufgaben einer Pädagogik der Solidarität mit den Begriffen Humanisierungsprogramm, Individualisierungsprogramm und Vergemeinschaftungsprogramm, wobei eine sozialistische Pädagogik diese drei Komplexe im Sinne eines universalen individualisierenden Vergemeinschaftungsprogramms miteinander zu verbinden hätte. „Pädagogik erhält in diesen Konzepten eine zweifache Funktion: Zum einen soll sie Menschen zu verantwortungsbewussten und tüchtigen Mitgliedern der Gemeinschaft machen (in diesem Sinne werden die Motive genutzt, die unter Pädagogik als Programm der Vergemeinschaftung thematisiert wurden).

Auf der anderen Seite soll sie Räume öffnen, in denen sich die jeweilige Individualität der Gesellschaftsmitglieder entfalten kann; Erziehung zur Solidarität mit den anderen zur Sicherung der Gemeinschaft als Grundlage für die eigene Individualität und die der anderen könnte man das Lernsteuerungsziel zusammenfassen.“ (S. 258). Dabei werden Spannungen und Widersprüche im Konzept einer Pädagogik der Solidarität, wie sie etwa in der Alternativfrage „Selbstbestimmung oder Zwang zur Solidarität?“ (S. 267) zum Ausdruck kommen, von Pfützner keinesfalls ausgespart. Vielmehr werden Reichweiten des Solidaritätsbegriffs über Grenzen der Geschlechter, der Generationen, der Klassen und der Nationen hinweg im Sinne einer „Dialektik von Ein- und Ausschluss“ (S. 284) thematisiert und kontrovers diskutiert. Eine strengere Differenzierung zwischen den Begriffen der Gemeinschaft und der Gesellschaft sowie eine deutlichere Herausarbeitung des politischen Aspektes einer Pädagogik der Solidarität hätte den diesbezüglichen Überlegungen Robert Pfützners noch mehr theoretische Kontur verliehen. Das letzte Kapitel des systematisch strukturierten zweiten Teils der vorliegenden Studie trägt dann allerdings eine fast zu zaghafte Überschrift – „Was bleibt? Konturen (k)einer Theorie solidarischer Pädagogik“ (S. 287) – angesichts der darin enthaltenen Impulse für eine künftige Pädagogik der Solidarität, geht es dem Autor doch darum, Solidarität als fehlendes Fundament einzuklagen und sie als Medium wie auch als Ziel pädagogischen Handeln einzufordern. Als politisches und pädagogisches Prinzip ernst genommen, erringt Solidarität den Status eines Grundimpulses pädagogisch motivierter Gesellschaftskritik. „Solidarität als normativer Grund pädagogischer Kritik an Gesellschaft kann dann eine ethische und moralische Orientierung sein, wenn sie im Hinblick auf das Offenhalten von Möglichkeiten individueller und gemeinschaftlicher Entwicklung Gesellschaft dort kritisiert, wo diese Möglichkeiten für Einzelne und/oder Gruppen begrenzt werden.“ (S. 306)

Mustergültige Einleitungskapitel zum Ziel und Aufbau der Arbeit, zur Methodik und Textauswahl sowie zum erziehungswissenschaftlichen Forschungsstand, ein kurzes resümierendes Schlusskapitel sowie ein umfassendes Literaturverzeichnis (S. 311-338) runden die klar gegliederte, verständlich geschriebene und gewandt formulierte Studie zum Thema „Solidarität bilden“ von Robert Pfützner gekonnt ab.

Robert Pfützner: „Solidarität bilden. Sozialistische Pädagogik im langen 19. Jahrhundert“. Transcript-Verlag Bielefeld 2017, 338 S., ISBN 978-3-8376-3966-7, 44,99 Euro.