Parabel über das Erwachsenwerden

Radu Potcoavăs neuester Spielfilm in den rumänischen Kinos

Es beginnt als Kinderspiel und wird zum Schluss sehr ernst. Szene aus dem Film „Der Sommer ist zu Ende“

Der Spielfilm „Vara s-a sfârşit“ (Der Sommer ist zu Ende) des 1978 in Bukarest geborenen Regisseurs und Drehbuchautors Radu Potcoavă gehört zur Gattung der Coming-of-Age-Filme, solcher Filme also, die Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenenalter, Heranwachsende in der Pubertät, junge Menschen auf dem Weg der Herausbildung einer reifen Identität zeigen. Der 105 Minuten lange Streifen, Radu Potcoavăs dritter Spielfilm, der beim 40. World Film Festival im kanadischen Montreal am 31. August vergangenen Jahres seine Weltpremiere hatte und seit dem 5. Mai dieses Jahres in den rumänischen Kinos zu sehen ist, spielt in der in der Dobrudscha gelegenen Stadt Cernavodă am Ufer der Donau.

Nicht nur der Schauplatz, auch der historische Rahmen des Films ist klar abgesteckt. Es handelt sich dabei um die Zeit unmittelbar vor der sogenannten Jahrhundertfinsternis, der totalen Sonnenfinsternis über Mitteleuropa am 11. August 1999, die in Rumänien die längste Dauer der Totalität erreichte und im ganzen Lande auch besonders gut zu beobachten war. Das mit Spannung erwartete kosmische Ereignis hat in Radu Potcoavăs Film sein Pendant im individuellen Leben des jugendlichen Protagonisten Mircea (Nicholas Bohor), der wenige Tage vor der Eklipse seinen vierzehnten Geburtstag feiert, mit dem nach allgemeinem Verständnis die Kindheit endet, was sich zum Beispiel auch im rechtlichen Bereich (Strafmündigkeit, Religionsmündigkeit etc.) widerspiegelt.

Zu Beginn des Films erscheint Mircea noch ganz als lieber Bub, der als einziges Kind seiner Eltern Elena (Ofelia Popii) und Geo (Şerban Pavlu) die Sommerferienzeit zu Hause zubringt, zwischen Rückzügen ins Jugendzimmer, einsamen Spaziergängen am Donaugestade, Limonadekäufen im kleinen Supermarkt an der Bushaltestelle und Gesprächen mit Onkel Ilie (Valentin Popescu), der ihm auch einen dicken Folianten mit naturwissenschaftlichen Informationen über kosmische Phänomene, wie zum Beispiel eine Sonnenfinsternis, ausleiht.

Mirceas öde Ferienroutine wird durch die Ankunft eines Jungen aus Bukarest namens Alex (Dan Hurduc) plötzlich unterbrochen. Alex bringt das Flair der großstädtischen Jugendkultur der Neunzigerjahre mit in das verschlafene Provinznest: Er hat lange Haare, die unter einer verkehrt herum getragenen Baseballkappe hervorquellen, trägt ein cooles T-Shirt, fährt ein hippes Fahrrad und lässt sich unablässig durch Headphones beschallen. Mit Alex, der in Cernavodă bei seiner Großmutter wohnt und dort auf seinen in Spanien berufstätigen Vater wartet, mit dem er wenigstens die Ferienzeit gemeinsam verbringen möchte, beginnen plötzlich spannende, aufreibende, aber auch gefährliche Tage für den jungen Mircea. Er übertritt nun ständig Verbote der Eltern (nicht in der Donau zu schwimmen, nicht zu spät nach Hause zu kommen, keine Schundmusik zu hören etc.), verletzt sich beim Fahrradfahren am Knie, verstaucht sich bei einem Sturz den Knöchel, lässt sich auf eine Schlägerei mit Fußballkameraden ein und bringt sich auch sonst in Gefahr.

Als Alex einzusehen beginnt, dass sein Vater auch dieses Mal wieder sein Versprechen brechen und nicht nach Rumänien kommen wird, macht er Mircea einen Vorschlag, den dieser nur um den Preis der Freundschaft mit dem Jungen aus Colentina ablehnen kann. Alex möchte sich zum Schein von Mircea kidnappen lassen, um mittels eines an seinen Vater gerichteten Erpresserbriefs an eine Summe Geldes zu kommen, mit der er sich dann einen schönen Urlaub gönnen möchte. Da Mircea die neu geschlossene Freundschaft mit Alex überaus wichtig geworden ist, lässt er sich schließlich zu diesem Vorhaben nötigen und die beiden beginnen mit den entsprechenden Vorbereitungen.

Aus Zeitungsschnipseln wird ein Erpresserbrief collagiert und mit Hilfe der Sofortbildkamera einer ahnungslosen Spielkameradin werden Erpresserfotos in den Kellerverliesen einer Industrieruine geschossen, wobei Alex zur Steigerung der Lebensnähe von Mircea gefesselt, geknebelt und mit Wasserfarbe als Blutersatz bemalt wird. Als die vor dem baufälligen Gebäude stehende Spielkameradin ihre Kamera lautstark zurückfordert, lässt Mircea sein hilfloses Opfer für einen Moment alleine. Draußen wird er jedoch von der Ankunft Toaders (Dorian Boguţă), des Vaters des Mädchens, überrascht, der die zwei Kinder, vom dritten nichts ahnend, in sein Auto packen und sie heimbringen will. Beim Versuch, der Erziehungsgewalt des fremden Vaters zu entfliehen und seinen hilflosen Freund zu befreien, verstaucht sich Mircea jedoch den Fuß und wird, nun nicht mehr gehfähig, von Toader wimmernd und widerstrebend zum Auto getragen, ohne dass ihm ein Sterbenswörtchen über den zurückgelassenen Alex über die Lippen kommt.

Beginnend mit diesem Wendepunkt in der Handlung entfaltet Radu Potcoavăs Film eine unglaubliche Dynamik und einen unwiderstehlichen Sog. Die Kamera (Oleg Mutu) heftet sich von nun an zäh und beharrlich an die Gestalt und das Gesicht Mirceas, dessen Schweigen immer lauter zu dröhnen beginnt. Aufgewachsen in einer Familie, in der die Erwachsenen nicht miteinander reden, in der der Vater weder Mut noch Entschlusskraft besitzt, in der die Mutter den Sohn, statt ihm mit Verständnis zu begegnen, mit Strafen und Kontrollen in die Enge treibt, versinkt Mircea immer tiefer in sich selbst, zumal alle seine Versuche, den Freund zu retten, scheitern: Wegen seiner Knöchelverletzung muss er auf dem Weg zum gekidnappten Alex unverrichteter Dinge wieder umkehren; die telefonische Kontaktaufnahme zu seiner Spielkameradin scheitert, weil diese gleich nach dem Vorfall in der Bauruine in die Ferien gefahren ist; Alex’ Großmutter kann ihm nicht mit Gewissheit sagen, ob sie ihren Enkel in den Tagen nach besagtem Ereignis noch einmal gesehen hat; und auch Onkel Ilie, der direkt an der Bushaltestelle wohnt, kann sich nicht erinnern, Alex beim Besteigen des Busses nach Bukarest gesehen zu haben.

Als Mircea endlich wieder richtig gehen kann, eilt er, nach schier eine Ewigkeit währenden Tagen, endlich zu der mittlerweile als Baustelle umzäunten und bewachten Industrieruine, um eine grausige Entdeckung zu machen. Der Keller, in dem er Alex hilflos zurücklassen musste, ist inzwischen bis zum Rand der Einstiegsluke mit Kies gefüllt. Die übermächtige Gewissheit, dass Alex dort unten verschüttet liegt, und die schwindende Hoffnung, dass er sich doch noch selbst gerettet haben könnte, steigern nun den Druck, der auf Mircea lastet, ins Unerträgliche. Sein immer tieferes Versinken im Schweigen wird auch durch den Ton des Films (Marius Obretin) meisterhaft gestaltet. Bei der Feier zu Mirceas vierzehntem Geburtstag, bei der immer wieder auch der Name von Alex fällt, verschwinden sukzessive die Außengeräusche und Mirceas Schweigen wird hallend hörbar, ein Verfremdungseffekt, der sich auch in anderen Filmsequenzen wiederholt. Und grandios ist auch die Szene, als Mircea die vierzehn Kerzen seiner Geburtstagstorte ausblasen soll, wobei es ihm doch tausendmal lieber wäre, sich statt seines Atems seines Geheimnisses zu entladen!

Schließlich bricht es mit Heulen und Schluchzen aus ihm heraus, als ihn sein Vater wegen einer Lappalie zurechtweist. Doch Mirceas schwacher und heteronomer Vater ist mit Mirceas Schuldbekenntnis vollkommen überfordert und vertröstet ihn auf die nächste Gesprächsgelegenheit mit der Mutter. Noch bevor dieses Gespräch aber stattfinden kann, begibt sich der Junge am späten Vormittag des 11. August auf die Polizeiwache und wartet dort, mit den beiden bislang versteckt gehaltenen Beweisfotos der Sofortbildkamera in den Händen, bis der diensthabende Beamte von der Betrachtung der Sonnenfinsternis draußen zurückgekommen ist und er sich selbst wird anzeigen können. Ein solcher Schritt eines jungen Menschen hin zur autonomen Moral und zur Eigenverantwortlichkeit, wie ihn Potcoavăs Film exemplarisch vorführt, ist in der Tat einem kosmischen Ereignis gleichzusetzen. Oder mit den Worten, mit denen Kant den letzten Abschnitt seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ eröffnet: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“