Stille Freude, ungeahnte Entdeckungen und Altgriechisch zu Ostern

„Passio“ des österreichischen Komponisten Werner Schulze erweitert siebenbürgischen Horizont

Christi Leib und Blut für Dich, für mich, für uns, für alle Welt geopfert

Pontius Pilatus (Johann Leutgeb) übergibt Jesus der Strafe des Kreuzes

Der Gerichtstrommler (Andrei Marcovici) steht kalt auf der Seite der Ankläger

Grelles Irrlicht als blendendes Zeichen der Auferstehung

Probenarbeit in Hammersdorf: Konzentration auf das Wesentliche
Fotos: Jolly Schwarz

Stauroson! Kreuzige! Der unbarmherzige Imperativ war eine von vielen altgriechischen Vokabeln, die ein aus Mitgliedern des Hermannstädter Bachchors gebildeter Männerchor ab Mitte Januar in wöchentlichen Proben einübte. Obwohl man mit der Tonsprache noch nichts anfangen konnte, wirkte die Aufgabe verlockend, doch verblasste der anfängliche Spaßfaktor zunehmend. Je näher die beiden Aufführungstermine während der Karwoche vor dem katholischen und protestantischen Osterfest rückten, desto einfühlsamer muss allen Chormitgliedern bewusst geworden sein, dass Ostern trotz ungetrübter Freude auch an einen anderen Gedanken erinnert: Gerade nochmal davongekommen! Denn bei den Zeter-und-Mordio-Schreien in altgriechischer Sprache hätte es beileibe auch ganz anders ausgehen können. Auf den Augenblick der Erlösung folgt stille Erleichterung, die sich weigert, laut überzuschäumen. „Passio“ op. 25 für Sopran, Bariton/Sprecher, Männerchor, Frauenchor, zwei Klaviere und zwei Schlagwerke des österreichischen Komponisten, Denkers, Poeten und Theatermenschen Werner Schulze (Jahrgang 1952) wurde am Mittwoch, dem 28. März, im Studio-Saal der Gheorghe-Dima-Musikakademie Klausenburg/Cluj-Napooca, sowie am Freitag, dem 30. März, im Gemeindesaal der Kirchenburg Hammersdorf/Gusterița (Hermannstadt/Sibiu) vor siebenbürgischen Augen und Ohren aufgeführt.

Die Plakat-Überschrift „Leid und Hoffnung“ kam nicht von ungefähr, da Werner Schulze die 2015 fertiggestellte und ein Jahr später in Wien uraufgeführte Drama-Passion als lebendige Theologie auch auf die siebenbürgische Bühne brachte. In den Hochburgen christlicher Konfessionen innerhalb des Karpatenbogens wird während der Passionszeit mit traditioneller Vorliebe auf altbewährte Vertonungen abendländischer Meister zurückgegriffen. Werner Schulze möchte nicht am Sockel etwa der Matthäuspassion oder Johannespassion Johann Sebastian Bachs, dafür aber an dem Musikverständnis des Publikums rütteln, es erweitern. Weg mit dem klassisch besetzten Kammerorchester und den Deutsch singenden menschlichen Stimmen, denn diesmal gilt es, auf der Suche nach dem geistlichen Weg durch das Nadelöhr des Todes Jesu Christi hin zur Auferstehung, die biblische Information des Neuen Testaments so ungefiltert wie nur möglich auf das Notenpapier und unter die Zuhörer zu bringen. Im Nachhinein wird niemand mehr bezweifeln, dass auch Ungeübte und Nicht-Theologen altgriechische Zitate einstudieren und auf nahezu muttersprachlichem Niveau interpretieren können. Und aus einem vielleicht instinktiven Kopfschütteln über die knappe Besetzung mit zwei Klavieren und zwei Schlagwerken kann nur Begeisterung für die neuartige Schilderung der Passionsgeschichte entstanden sein.

Einen Schuss Rücksicht für die deutschsprachige Zuhörerschaft hat Werner Schulze trotzdem noch übrig, indem er den solistischen Bariton die Passionsgeschichte auf Deutsch erzählen und nur die Rolle des Pontius Pilatus, bzw. des Jüngers Petros auf Altgriechisch singen lässt. Gleiches gilt auch für die Personen Jesus und Hohepriester, bzw. die wütende, nach Vergeltung und Justizmord geifernde Menge: in „Passio“ erklingt alle direkte Rede immerzu in altgriechischer Sprache. Selbst Philosoph, besteht Schulze darauf, dass der im deutschen Sprachraum übliche Petrus durch die originale Sprache des Neuen Testaments entschieden als „Petros“ angeführt wird. An der dreimaligen Verleugnung und dem sofortigen Hahnenschrei wird selbstverständlich nicht gebastelt, doch waren aus dem altgriechischen Klaggesang Petros´ mehr Nuancen inneren Zerwürfnisses als in vielen anderen Vertonungen der Passionsmusik herauszuhören.

Ouk eimi! Ich bin´s nicht! Johann Leutgeb (Österreich) hatte die Schlüsselrolle des Pilatus, den leugnenden Petros, und obendrein den Deutsch sprechenden, teils skandierenden Erzähler zu stellen. Mit ein und derselben Stimme zeichnete er meisterhaft drei verschiedene Identitäten nach. Ebenso wie alle Mitstreiter hatte auch Johann Leutgeb im Studio-Saal der Klausenburger Gheorghe-Dima-Musikakademie die nicht leichte Aufgabe zu bewältigen, theologischen Inhalt eines Musikwerks an einem Aufführungsort zu vermitteln, wo Geistliches selten zur Sprache kommt. Da zur selben Uhrzeit das bekannte Streichquartett „Arcadia“ in einem anderen Hörsaal der Musikakademie Bartók spielte, waren wenig Zuhörer in den Studio-Saal gekommen. Eine ungünstige Ausgangslage, doch erhielt das versammelte Ensemble des Projektes „Leid und Hoffnung“ großzügige Anerkennung eines viel zu kleinen Klausenburger Publikums.

Ungleich intensiver gestaltete sich die Aufführung am Abend des katholischen und protestantischen Karfreitags in Hammersdorf, als Johann Leutgeb und der getrimmt grölende Männerchor einander im heißen Takt biblische Zitate zuwarfen. Auf den altgriechischen Ruf „Stauroson auton!“, Kreuzige ihn!, setzte Andrei Marcovici mit einem Trommelwirbel ein, den er derart unerbittlich bis zum Äußersten steigerte, dass es einem eiskalt über den Rücken lief. Einmal mehr musste man daran denken, dass die Ostergeschichte auf der Todesangst Christi aufbaut.

Gabriel Barani und Andrei Marcovici hatten eineinhalb Stunden lang quasi null Spielpause und waren an Pauken, großer Trommel, Gong, Röhrenglocken und weiteren Schlaginstrumenten über jeden Zweifel erhaben. Einen nicht weniger enormen Aufwand hatten Brita Falch Leutert und Jürg Leutert in den Klavierparts zu bestreiten. Ihnen stand das Privileg zu, auf der letzten Strecke der Aufführung einen in der Partitur notierten Lichtblick erzeugen zu dürfen. Pünktlich zu den von Bariton Johann Leutgeb im vorletzten Abschnitt gesprochenen Worten „Eröffnung und Geheimnis zugleich“, entfaltete ein berstender Cis-Dur-Akkord wie aus der gerufenen Versenkung heraus verheißende Wirkung. Cis-Dur, die Tonart der sieben Kreuze. Wenn es in der Musik überhaupt ein Fest gibt, das sie alle verdient, dann die Auferstehung. „Passio“ von Werner Schulze strotzt von starken Dissonanzen, Clustern und lauten Schlagwerkpassagen, bietet aber auch heilende Klänge stiller Erleichterung. Ostern rückt Leid und Hoffnung ganz nah aneinander.

Klaus Philippi versuchte sich in der Aufgabe, mit roher Stimmgewalt die ätzenden Schmährufe des Hohepriesters Kajaphas wiederzugeben. Melinda Samson interpretierte die Rolle des Jesus und überstand mit souveräner Stimme die aus allen vier verschiedenen Richtungen erfolgten Hassattacken: Petros, Hohepriester, Pilatus und tobendes Volk. Warum Werner Schulze den Christus von einem Sopran singen lässt? Als Antwort darauf stelle man sich eine andere Frage: Warum werden in Bachs Matthäuspassion die Jesusworte von einem Streicherensemble, hingegen der Evangelist und weitere Personen nur vom Basso continuo begleitet? Genauso wie damals ist es auch heute nötig, den Heiligenschein des Herrn und Meisters des Neuen Testaments mit noch nie dagewesenen Mitteln zu verbildlichen.

„Passio“ und das Projekt „Leid und Hoffnung“ beeindruckten auch dank des Einsatzes der aufführenden Künstlerin Teresa Leonhard, die gemeinsam mit der sechsköpfigen Compania DIS.PLACE den musikalischen Stationen der Drama-Passion ausdrucksstarke Choreografien hinzufügte. Anlässlich der Uraufführung in Wien hatte Werner Schulze von seiner vormaligen Doktorandin den Anstoß erhalten, der 12-teiligen Vertonung der düsteren Passionsgeschichte ein visionäres Nachwort anzufügen. Schulze nahm den Gedanken auf und komponierte den Epilog „Visitatio sepulchri“, ein in lateinischer Sprache inszenierter Besuch der Frauen am Grab Christi. Zwecks Versinnbildlichung des Sterbens Jesu standen am Anfang und Ende der vorangehenden „Passio“ die von drei Solostimmen intonierten altgriechischen Worte „To soma, to haima“ (der Leib, das Blut), worauf unmittelbar der musikalische Ausdruck der Auferstehung folgte, den Elisa Gunesch in der Rolle des fragenden Engels eröffnete: „Quem quaeritis?“, wen sucht ihr? In Klausenburg hatte der dreistimmige Frauenchor große Mühe, das direkt anschließende Wunder singend nachzuzeichnen, nahm aber zwei Tage später in Hammersdorf Revanche. Teresa Leonhard und drei Damen der Compania DIS.PLACE brachten im bewusst tonlosen Moment der Aufführung mittels stummer Performance eine Art weißen Schimmer des Osterlichtes auf die Bühne, nachdem einige Augenblicke vorher drei junge Herren desselben Ensembles mit Holzrahmen Bewegungsmuster vorgeführt hatten, um zu zeigen, dass ein jeder Christ sein Kreuz durchs Leben trägt. Wie selbstverständlich ging das Konzept Teresa Leonhards auf, wonach Menschen mit und trotz unterschiedlicher Behinderungen durch ihre aktive Teilnahme der Kunst zu ungeahnter Ästhetik verhelfen können.

Werner Schulze und Teresa Leonhard haben Siebenbürgen ein Kulturereignis geschenkt, das in der Erinnerung aller Beteiligten einen Ehrenplatz einnehmen wird. Einführend zur Aufführung von „Leid und Hoffnung“ in Hammersdorf erklärten beide Hauptinitiatoren ihre Überzeugung, dass es möglich sei, anhand der Passionsgeschichte geistliche und weltliche Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen. Eine leichte Hürde ist das Bestehen innerhalb der behütenden Kirche. Doch steht die Christenheit draußen in der Welt vor der Herausforderung des Überlebens, ohne der Kirche entsagen zu dürfen. Stellvertretend für Mitteleuropa wurde nachdrücklich bewiesen, dass die scheinbar kompromisslos säkulare EU entgegen landläufiger Vorbehalte nach wie vor die Aufgabe der Pflege geistlicher Lebensinhalte wahrnimmt. Die Aufführenden von „Passio“ sprechen verschiedene Muttersprachen und bezeichnen unterschiedliche Kirchen als ihre jeweilige Heimat, vermeiden jedoch allen gegenseitigen Vertrauensbruch. Den Glauben an die Auferstehung möchte Europa nicht verlieren.