„Ţara moartă”: ein Arzt, ein Fotograf, ein totes Land

Wie Radu Jude an ein trauriges Kapitel der rumänischen Geschichte erinnern will

Radu Judes Film feierte im Juli auf dem Internationalen Filmfestival in Locarno Premiere.

Ein jüdischer Arzt in Bukarest, der vor und während des Zweiten Weltkriegs ein Tagebuch führt, ein rumänischer Fotograf, der in Slobozia, einem Marktflecken im Bărăgan, in derselben Zeitspanne ein Fotostudio betreibt, ein rumänischer Filmregisseur und Drehbuchautor, der die Geschichte seines Landes entdeckt und verfilmt: Emil Dorian (1893 – 1956), Costică Axinte (1897 – 1984) und der 1977 geborene Regisseur und Drehbuchautor Radu Jude selbst, sie sind die Hauptdarsteller in Judes jüngster Produktion, dem Dokumentarfilm „Ţara moartă“, auf Deutsch „Totes Land“, der zurzeit in Rumäniens Kinos läuft. Einfachster Mittel bedient sich Jude in dieser seiner neuesten Produktion und umso stärker ist die Wirkung, die er dabei erzielt.

Jude zeigt Fotos aus dem Nachlass von Axinte, eine Stimme liest aus den nach 1989 erschienenen Tagebüchern von Emil Dorian. Vervollständigt wird das Ganze mit Auszügen aus damaligen Nachrichtensendungen des Rundfunks, Ansprachen von König Carol II., Marschall Ion Antonescu, Horia Sima und anderer Persönlichkeiten jener Zeit. Dabei entsteht eine einzigartige Geschichte Rumäniens zwischen 1937 und 1947, zwischen dem Antritt der profaschistischen Regierung unter Octavian Goga gegen Ende des Jahres 1937 und der Machtübernahme durch die Kommunisten ein Jahrzehnt später. Es ist ein trauriges Jahrzehnt, das Land erlebt Gebietsverluste, Diktaturen, den Krieg im Osten, die Verfolgung der Juden, den Staatsstreich vom 23. August, den Einmarsch der Roten Armee. Aber vordergründig geht es Jude nicht nur um die Geschichte im Großen, sondern um jene im Kleinen. Um die scharfsinnigen Beobachtungen eines jüdischen Intellektuellen, der wie kein anderer, mit Ausnahme vielleicht von Mihail Sebastian, dessen Tagebuch durchaus bekannter ist, die moralische Verrohung seiner Landsleute wahrnimmt und daran fast zu Grunde geht.

Die Regierung erlässt Diskriminierungsgesetze, jüdisches Eigentum wird eingezogen, Juden in Bessarabien werden nach Transnistrien deportiert, ab Jassy/Iaşi rollen die Todeszüge, in Bukarest müssen jüdische Mitbürger bei minus 42 Grad den Schnee räumen. Und werden dabei von der Mehrheitsbevölkerung gefragt, was denn Hitler mit ihnen habe, dass er sie in allen mit Deutschland verbündeten Ländern verfolgen lässt. Die Eiserne Garde wütet im ganzen Land, bis der Marschall die Ordnung wieder herstellt. Der Rundfunk berichtet, wie die rumänische Verwaltung und die Armee in Transnistrien gefeiert werden, weil sie die Bolschewiken verjagt haben. Und der Propagandaminister beschwört in Kronstadt zusammen mit Hans Otto Roth die Freundschaft zwischen Hitler-Deutschland und Rumänien, die Deutschen seien in Rumänien keine Minderheit mehr, sondern eine Art zweites Staatsvolk. Den jüdischen Arzt ekelt die Ergebenheit der rumänischen Behörden zutiefst an, er erkennt genau, wie in solchen Zeiten Menschlichkeit, Würde und Anstand zu Mangelware werden. Nicht nur unter Politikern, sondern auch unter einfachen Menschen. Und er beobachtet scharf, was die Nachbarn sagen, was Freunde behaupten, was Zeitungen schreiben, was der Rundfunk erzählt. So blickt er tief in die Abgründe der menschlichen Seele hinab, verzweifelt und bleibt trotzdem nüchtern. Obwohl um ihn herum die Seelen sterben und mit ihnen das Land. Rumänien, ein totes Land, auf den Agfa-Platten des Costică Axinte aus Slobozia verewigt.

Dorian, ein jüdischer Arzt im mit Hitler-Deutschland verbündeten Rumänien, weiß genau, was in Polen passiert, er scheint über die Existenz und die Zustände in den Konzentrationslagern ziemlich gut informiert zu sein. Emil Dorian, ein rumänischer Victor Klemperer, dem Judes Film zu der durchaus verdienten Bekanntheit verhelfen sollte. Das Kriegsgeschehen, die Massenvernichtung der Juden, der bevorstehende Einmarsch der Sowjetarmee, das alles scheint die Rumänen aber nur wenig zu berühren. „Wir haben Klausenburg verloren, aber dafür bekamen wir Odessa“, sagt einer. So einfach ist das. In der Straßenbahn will sich ein alter Rumäne nicht auf den Platz setzen, der ihm von einem jüngeren Juden angeboten wird. Daraufhin setzt sich ein anderer Rumäne auf den Platz, steht nach wenigen Minuten auf und sagt dem Alten: „Bitte, ich habe ihn für Sie rumänisiert, Sie können sich nun hinsetzen“. Und ein Offizier erzählt seinem Friseur, er habe in Transnistrien so viele Juden abgeschlachtet, bis es ihm übel geworden sei. Eine Lektion, die wievielte wohl, für all jene, die den Antisemitismus und die Beteiligung der Rumänen am Holocaust verleugnen.

Aber es folgt der 23. August, auf einmal sind die Russen da und das Volk schreit auf den Straßen: URSS, URSS, URSS! Und der Rundfunk berichtet, wie Rumäniens neue Führung besondere Konditionen in Moskau aushandeln konnte, schließlich sei die Sowjetunion Rumäniens bester Freund. Mit Bitterkeit registriert Dorian in den Jahren 1946 und 1947, wie das Interesse der Öffentlichkeit an der Bestrafung der Kriegsverbrecher nachlässt, wie kaum noch darüber gesprochen wird, obwohl die Volksgerichte weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen und Urteile fällen, auch Todesurteile.

Axintes Bilder, die Fotos des Provinzfotografen aus Slobozia, bezeugen eindrucksvoll, wie recht der tagebuchschreibende Arzt haben konnte und warum das, was er schreibt, der Realität entsprach, die Dorian in ihrer ganzen Tragik erfasst hatte. Sie zeigen das Volk, so wie es war: die beklemmende Armut auf den Dörfern, die vielen toten Kindern in den kleinen Särgen, um die sich Großfamilien auf dem Begräbnis versammeln, die schmutzigen Dorfpopen in ihren schmierigen Kutten, die aufgeputzten Damen, die sich in Axintes Fotostudio begeben, die vielen jungen Soldaten, die stolz mit ihren Waffen auftreten und denen man die Armut, die mangelnde Lebenserfahrung, die jugendliche Naivität von den Gesichtern ablesen kann, die Dorfälteren, die Schnaps aus kleinen Gläsern trinken, die Jagdpartien während der schneereichen Jahre 1942 und 1943, die Porträts von König und Marschall in den armseligen Klassenräumen, davor barfüßige Jungen und Mädchen in rumänischen Volkstrachten und mit zum Hitlergruß ausgestreckter Hand, dann die holprigen, im Morast versinkenden Straßen. Und die zwei Paar Stiefeln, die man tragen musste, um in eben jenem Morast nicht steckenzubleiben oder um den ganzen Dreck nicht in die kleinen Häuser hineinzutragen. Im Hintergrund aber die krächzende Stimme seiner Majestät, König Carol II., oder aber ein Legionärslied, dann ein pathetischer Rundfunksprecher, der die Nachrichten liest: Zwei Bukarester Plätze hießen nun Adolf Hitler und Benito Mussolini. Ein paar Jahre später werden sie V.I. Lenin, I. V. Stalin oder Malinowski heißen, die Geschichte kennt keine Gnade. Was 1946 und 1947 dann passiert, scheint Dorian ebenfalls klar zu erkennen, trotz des furchtbaren Jahrzehnts bleibt der Arzt ein frei denkender Geist. An ihn zu erinnern, gebührt sich zweifelsohne. Dem talentierten Filmemacher Jude gelingt dies glänzend.

Radu Jude, im In- und Ausland bereits mehrmals für seine Produktionen ausgezeichnet, hatte 2015 mit „Aferim!“ einen walachischen Western gedreht, bei der Berlinale bekam er gleich zwei Preise dafür. Spielte „Aferim!“ in den 1830er Jahren, konzentriert sich Jude nun auf die Zwischenkriegszeit. 2016 verfilmte er den 1937 erschienenen Roman „Inimi cicatrizate“ („Vernarbte Herzen“) des rumänisch-jüdischen Schriftstellers Max L. Blecher (1909 – 1938), um sich nun mit „Ţara moartă“ dem Zweiten Weltkrieg zu widmen. Es ist seinem Publikum zu wünschen, dass der Regisseur das Interesse an Rumäniens Geschichte im 20. Jahrhundert nicht so schnell verliert, Stoff gibt es noch genug.