Treue zum Leben oder im Tod

Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ an der Deutschen Oper Berlin

Richard Wagners Musikdrama „Der fliegende Holländer“, das am 2. Januar 1843 im Königlichen Hoftheater in Dresden seine Uraufführung erlebte, führt dem Publikum eine Alternative vor Augen, vor die sich Senta, die weibliche Protagonistin der dreiaktigen Oper, in einem schicksalhaften Moment gestellt sieht. Entweder sie entscheidet sich für eine bürgerliche Ehe mit dem Jäger Erik, mit dem sie bereits verlobt ist, und damit für ein Leben in gegenseitiger Treue bis zum Tod, oder sie rettet den verwünschten Holländer, indem sie ihren Treueschwur durch den unmittelbar darauf folgenden Freitod besiegelt und damit den Gatten vom Schicksal der ewigen Verdammnis erlöst. Das Bürgerliche und das Heroische, Lebensbejahung und Todessehnsucht, Realität und Geisterwelt stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber. Im Untertitel des Wagnerschen Musikdramas – „Romantische Oper in drei Aufzügen“ – deutet sich freilich bereits an, dass, neben dem Sagenstoff selbst, auch Wagners eigene theatralische Phantasien die Erlösungsvariante als Lösung nahe legen.

Dass romantische Liebe dabei nicht notwendig in Todesbejahung und Selbstopfer enden muss, zeigen entsprechende Passagen aus den „Memoiren des Herren von Schnabelewopski“ von Heinrich Heine, in denen der große Ironiker ebenfalls die Sage vom fliegenden Holländer erzählt, den Bericht von der Amsterdamer Theateraufführung jenes Sagenstoffes aber an entscheidender Stelle unterbricht, um eine erotische Episode einzuflechten, die sich auf einem schwarzen Sofa im Theaterfoyer abspielt, bevor die schöne Holländerin und der polnische Adlige dann wieder als Zuschauer auf ihre Plätze zurückkehren, um das traurige Ende der Schauspielhandlung mitzuerleben, das Heine am Ende des siebten Kapitels der „Memoiren“ folgendermaßen kommentiert: „Die Moral des Stückes ist für die Frauen, dass sie sich in Acht nehmen müssen, keinen fliegenden Holländer zu heiraten; und wir Männer ersehen aus diesem Stücke, wie wir durch die Weiber, im günstigsten Falle, zugrunde gehen.“ Wagner lag eine solche ironische Behandlung des Stoffes freilich fern, seine musikdramatische Version der Sage vom fliegenden Holländer strotzt vor Ernst und tragischer Tiefe.
Dieser tragischen Intention hat der Komponist auch den dramatischen Aufbau seiner Oper vollkommen untergeordnet.

Es gibt wohl kein Werk Richard Wagners, dessen dramatische Handlung sich in derartiger Geschlossenheit, mit solcher Wucht und in solcher zeitlicher Einheit und Stringenz vollzieht. Atemlos verfolgt der Opernbesucher das Bühnengeschehen, das ohne Pause von der ersten bis zur einhundertdreißigsten Minute ununterbrochen und mit durchgehend intensivster Dynamik vor seinen Augen abrollt. In der Berliner Aufführung vom 8. September, der siebten Vorstellung seit der Premiere am 7. Mai dieses Jahres, gab es nur einen einzigen zaghaften Versuch, zwischendurch Beifall zu spenden, nämlich nach dem Ende der höchst dramatischen Ouvertüre, danach aber folgte das Publikum dann geschlossen der Intention des Komponisten, der die Partien der Gesangssolisten bewusst so anlegte, dass Szenenapplaus quasi unmöglich ist, weil nach dem Ende der jeweiligen solistischen Partien abrupt einsetzende Umschwünge und plötzlich eintretende Wendungen der dramatischen Handlung den Zuschauer sofort von Neuem in ihren Bann ziehen.

Ebenso fügten sich Bühne, Kostüme und Licht in dieser gelungenen Berliner Inszenierung von Christian Spuck der dramatischen Intention des Komponisten perfekt ein. So vollzieht sich der Wechsel der Bühnenbilder vor den Augen der Zuschauer bei fortdauernder Musik und in atemberaubendem Tempo. Das Segeltuch, das im ersten Akt die Ware des reich beladenen Schiffes bedeckt, wird im zweiten Akt, an Haken gehängt und in die Höhe gehoben, zum Zelttuch, das die Stube überwölbt, in der die Frauen der Seeleute auf deren Rückkehr warten und in der Senta die Ballade vom fliegenden Holländer singt. Im dritten Akt fungiert das schwarze Tuch dann als Totensegel, das, wie einst im antiken Mythos von Aigeus, das tragische Ende des Geschehens vorwegnimmt. Auch die chromatische Einheit der Kostüme, die Düsternis der Atmosphäre und das fahle Licht, das nur in der Taschenlampen- und in der Stubenszene durch Grelle und Helle ersetzt wird, tragen in der Berliner Inszenierung zur sinnbildlichen Geschlossenheit des Operngeschehens bei.

Einzelne Regieideen verwundern, wie zum Beispiel das Requisit des Modellschiffs, das einmal vom Jäger Erik an die Wand geworfen wird, dann später, vergoldet, die unermesslichen Reichtümer des fliegenden Holländers symbolisieren soll, um am Ende wiederum nur als graues Objekt auf die Bühne getragen zu werden. Höchst gelungen ist dagegen die Idee, den Jäger Erik, Sentas Verlobten, während des gesamten Operngeschehens auf der Bühne zu belassen, bis auf eine kurze Abwesenheit während des Erklingens der Holländer-Ballade aus Sentas Mund. So wird die Unmittelbarkeit der dramatischen Handlung dann doch noch – mit romantischer Ironie im Sinne Friedrich Schlegels – perspektivisch gebrochen, insofern dem Opfermut und Erlösungspathos Sentas, die ihren Treueschwur mit ihrem Tod besiegelt, durch Eriks ständige Präsenz permanent ein anderes Konzept von ehelicher Gemeinsamkeit entgegengehalten wird, das die Treue der Liebenden zueinander und zum Leben bejaht. Ungläubig staunend wird Erik Zeuge, wie sich seine Geliebte und Verlobte nach dem Verhaltensmodell, das ihr die Holländer-Ballade seit ihrer Kindheit vorgab, Schritt für Schritt auf den Abgrund zu bewegt, in den sie sich am Ende freiwillig stürzt.

Neben den Chören und den männlichen Gesangssolisten waren an der Vorstellung vom 8. September an der Deutschen Oper Berlin vor allem das hervorragende Orchester und die musikalische Gesamtleitung durch Donald Runnicles lobend hervorzuheben, der seit der Spielzeit 2009/2010 als Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin wirkt. Eine Inszenierung also, auf deren Wiedersehen man sich freuen kann!