Unentwegt lieben

In Birgit Mattauschs Erstlingswerk steht eine russlanddeutsche Familiengeschichte im Fokus

Birgit Mattausch, „eine Pastorin zwischen Kirche und Literatur“, wie Alexander Nortrup, ein epd-Journalist, sie neulich nannte, ist als Bloggerin und Autorin von Erzählungen bekannt. 2023 ist ihr Debütroman erschienen – und überrascht mit einer besonderen Thematik: Die in der Umgebung von Stuttgart geborene Autorin widmet sich einer russlanddeutschen Familiengeschichte. Bei einer Lesung in Berlin gestand sie, dass die Geschichten der Spätaussiedler aus jener Gemeinde in Süddeutschland, in der sie zehn Jahre lang als Pfarrerin tätig gewesen sei, ihr zu Herzen gegangen seien. Sie habe mit sich gehadert, ob sie diese Geschichten zu Papier bringen solle. Doch nun, nach mehr als sechs Jahren Arbeit, liegt Birgit Mattauschs Debüt vor – mit Poesie und Eleganz ist es ihr gelungen, einen Kosmos voller Zärtlichkeit, sanfter Töne, magischer Zeichen, trauriger Geschichten und melancholischer Gemüter zu kreieren. Ein lyrischer Roman, der seinesgleichen sucht!

Eine Urgroßmutter, die im Buch nur Babulya genannt wird, packt ihre Urenkelin Nanush in eine warme Decke und bringt sie aus Sibirien nach Deutschland, ins gelobte Land, von dem sich die Spätaussiedler für ihre Kinder und Kindeskinder eine bessere Zukunft erhoffen. Zwischen Nanush und ihrer Babulya herrscht ein ewiger Beziehungsfrühling. Umsorgt und behütet wächst Nanush in einem Hochhaus am Rande eines Waldes in Deutschland auf. Die Küche ihrer Babulya wird zum „Herz“ des Hauses, in dem alle Nachbarn willkommen sind. Dort atmen sie „Luft aus Sibirien“, von der Urgroßmutter „in ihrem Haar“ mitgebracht, und vernehmen Geschichten von Bären, Rehen, Schwänen, Brennnesseln, Ochsenherzen und vielem mehr. Das Brot, das in diesem Haus gebacken wird, enthält nebst Mehl, Wasser, Hefe, Salz, Zucker, Joghurt und Öl, auch „ein bisschen Liebe“. Denn Liebe braucht es in einem Land, das „keine Anstalten macht, uns auch nur zu mögen“. Doch der Trost der Spätaussiedler aus Russland ist, dass „der Wald, der Schnee und nicht zuletzt der Wodka aus großen Gläsern“ sie liebt: „Und es liebt uns dieses Haus. Und wir lieben es zurück.“ Denn das Hochhaus ist ein Lebewesen, das atmet und sich bewegt. Um diesen magischen Ort winden und ranken sich die verschiedensten Pflanzen – sie lugen in den Ritzen zwischen den Waschbetonplatten hervor oder grüßen aus Blumenkübeln an den Fahrradständern oder winken von den Balkonen und den Fensterbrettern. Es scheint, als lebe dieses Hochhaus in Harmonie mit der Natur. Doch die Idylle trügt: Die Realität macht auch vor diesem Schutzraum keinen Halt. Gewalt im Großen mit Kriegen, Deportationen, Arbeitslagern sowie im Kleinen mit demütigenden Erziehungsmethoden sind den Hausbewohnern nicht fremd. Der Alltag zeigt sich oft von seiner rauen Seite – die Lügengeschichten von „Russia Today“ können nicht abgewehrt und die Selbstmörder nicht aufgehalten werden. „Es gibt Dinge, für die es keine Worte gibt“ – das zeigt Birgit Mattusch, wenn sie trotzdem versucht, die Schönheit des Lebens in Worte zu fassen, oder wenn sie im Angesicht des Leids ihre eigene Ohnmacht spürt. Unmissverständlich erklingt die Botschaft: „Die Liebe geht nicht verloren.“ Sie vererbt sich an künftige Generationen und verdrängt die Gewalt. Die Menschen, die in Mattuschs Hochhaus leben, setzen ihre ganze Hoffnung auf den Wald, der sie heilen und beschützen wird. Und Nanush, die von ihrer Urgroßmutter so viel Zuneigung und Wärme erfuhr, wird zu einer großen Liebenden: Mit derselben zärtlichen Fürsorge wird sie ihre alte, gebrechliche, an Altersdemenz erkrankte Babulya in deren letzten Tagen und Stunden begleiten. „So lieben wir unentwegt“ – das ist die Quintessenz von Birgit Mattauschs Roman.