Neue Klänge nach Forschung im Barock und einem Literaturkreis

Das vielschichtige Musica Ricercata Festival ist eine Klasse für sich

Ein Streicher-Ensemble des Jugendorchesters der Republik Moldau, das es nicht schwer hatte, die Aufmerksamkeit seines Publikums in Hermannstadt zu binden. Foto: Klaus Philippi

Hermannstadt – Die von György Ligeti selbst vorgeschriebene Spielart, sein tickendes „Počme symphonique“ für 100 mechanisch betriebene Metronome nach dem Auslösen der ersten Schläge von Hand ohne jedes weitere menschliche Zutun verklingen zu lassen, musste nichtsdestotrotz zum Start der fünften und aktuellen Auflage des Musica Ricercata Festivals wiederholte Male durch verfrühtes Eingreifen aufgehoben werden. An die schweren und gruppierten Tische, auf denen zwecks Demonstration und zum Mitmachen des Publikums auf ein Zeichen von Dirigent und Festival-Leiter Gabriel Bebe{elea hin 100 Stück eines Metronoms der Bestmarke PTNOKA aufgereiht worden waren, traten nach bereits fünf Minuten Festival-Manager Marius Negru und Opern-Kapellmeister David Crescenzi aus Temeswar, der das Eröffnungskonzert am Donnerstag, dem 20. Juli, in der griechisch-katholischen Ursulinen-Kirche und auch die Fortsetzung freitags darauf im Hof des Erasmus-Büchercafés und des Teutsch-Hauses sowie in der evangelischen Johanniskirche als leidenschaftlicher Zuhörer und Branchen-Insider begleitete. Beide Mitstreiter und Berufskollegen von Gabriel Bebeșelea halfen dem idealerweise stufenlosen Verebben des „Počme symphonique“ zu Schluss durch Unterbrechung vieler noch taktierender Metronome und somit kontrolliertes Herbeiführen des Endes nach. Genau das, was Ausnahme-Komponist György Ligeti (1923-2006) ausdrücklich nicht gewollt hätte. 

In Hermannstadt/Sibiu hingegen standen einer Aufführung seines plärrenden Rhythmus-Klanggewebes ab stets 19 Uhr 23 nicht mehr als genauestens berechnete und geplante sieben Minuten bis zum jeweils folgenden Konzert zur Verfügung, was an der technischen Perfektion des Instrumentariums mit der im Boden versteckten Aufschrift „Made in China“ scheiterte. Wahrscheinlich hätten etliche der 100 bis zum Anschlag aufgezogenen Metronome die vorab für das Programmleitstück von György Ligeti festgelegt maximale Zeit weit übertroffen, würde ein um Gabriel Bebeșelea versammeltes Festival-Team das nach und nach autonom endende Ticken vom „Počme symphonique“ nicht geschickt vorzutäuschen versucht haben.

Erwartungsgemäß aber sollte es bei nur diesem einen Kompromiss bleiben. Unter der Leitung von Gast-Konzertmeisterin und Solistin Neža Klinar (Slowenien) erspielte sich ein aus barock informierten Mitgliedern des Jugendorchesters der Republik Moldau gebildetes Streicher-Ensemble tosenden Applaus in der Ursulinen-Kirche, der mit zwei Zugaben beschenkt wurde und das Andenken an Dimitrie Cantemir wiederaufleben ließ, dessen Todestag sich demnächst am 21. August zum 300. Mal jährt. Zuvor hatten Auszüge der markant italienischen Schreibweise und Musiksprache von Antonio Vivaldi, Girolamo Frescobaldi und Francesco Geminiani, mit regionalen bis hin zu Welt-Uraufführungen von Carlo Farina, György Ligeti und Dan Țurcanu angereichert, feines Hören vor kulturell spezifischer  Kulisse Siebenbürgens bereitet. Als das Festival-Geschehen einen Tag später von der Kultstätte griechisch-katholischer Eigenart an einen Standort evangelischen Lebens wechselte, stellte Rumäniens Botschafter in Österreich Emil Hurezeanu freundlich statt kritisch belehrend klar, dass man in Transsylvanien den neu und hoch im Kurs stehenden Terminus „Multikulturalität“ lange Zeit gar nicht erst als solchen gekannt oder verwendet habe. „Dafür hatten wir stets ´Interkulturalität´“, so der Karrierediplomat mit jahrelanger Spitzenerfahrung als Journalist, der sich das Referieren über den Hermannstädter Literaturkreis während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Theaterwissenschaftler Ion Vartic teilte. Dass Schriftsteller Wolf von Aichelburg, auch als Komponist sehr begabt und auf dem Konzertprogramm von Sonntag, dem 23. Juli, in der Franziskanerkirche stehend, Sohn eines Marineoffiziers im Dienst Österreichs zur Zeit der Doppelmonarchie gewesen war, gaben Emil Hurezeanu und Ion Vartic ihrer Zuhörerschaft als eines von unzähligen spektakulären Details in der Johanniskirche preis. Literaturkreis-Mitglied Wolf von Aichelburg hatte lange 13 Jahre Gefängnishaft im kommunistischen Rumänien erlebt und schied 1994, obwohl ein sportlicher Schwimmer, im Mittelmeer aus dem Leben. Das Autograph seines 1968 datierten Bläserquintetts, vom Ensemble „Duende“ aus Klausenburg/Cluj-Napoca während des Musica Ricercata Festivals in Hermannstadt aufgeführt, entdeckte Gabriel Bebe{elea in Freiburg im Breisgau. Sehr erfrischend auch, den Gründer und Leiter des Musica Ricercata Festivals am Freitag, dem 21. Juli, als Violinist und Duo-Partner von Spitzengeigerin und ARD-Musikwettbewerbspreisträgerin Alexandra Tîr{u erlebt haben zu können, der für das unverkennbar folkloristisch inspirierte Stück „Baladă și joc“ von György Ligeti aus Bukarester Zeit (1949/50) zu Bogen und Streichinstrument griff und die Alleinunterhalterin von Weltklasse aus der Republik Moldau zwecks großer Überraschung zum Schluss ihres Solo-Abends mit denselben Mitteln für die Dauer eines kurzen wie knackigen Gassenhauers begleitete. Hoffentlich hat die Stunde der finalen Auflage des Musica Ricercata Festivals noch lange nicht geschlagen. Die noch auszulotenden Aha-Effekte der klassischen Musikszene sind so zahlreich, dass es schade wäre, auf die klingenden Erfolge der Recherchen von Gabriel Bebeșelea verzichten zu müssen.