„Alltagsrassismus“

Der neue Kampfbegriff der Dauerempörten / Von Dr. Remus Racolţa

Es gibt Rassismus, so habe ich in letzter Zeit gelernt, und es gibt „Alltagsrassismus“. Überhaupt kann man heutzutage den Rassismus nicht genug bekämpfen, immer und überall, auch wenn längst nicht mehr klar ist, was man unter dem Terminus versteht, Hauptsache man muss dagegen ankämpfen. Ich persönlich habe den Eindruck, wenn ich die Zeitung lese, es wäre ja alles viel schlimmer als vor 100 Jahren, und frage mich die ganze Zeit, wieso noch so viele Menschen nach Europa kommen, wo es doch so schlimm mit dem Rassismus steht. Ist es nicht merkwürdig, dass je doller der Rassismus wütet, desto mehr Einwanderer ein Stück davon abkriegen möchten? Vorbei die Zeit, in der sich der Rassismus durch Schwarzamerikaner, die in den USA hinten im Bus sitzen mussten, definieren ließ. Oder dass sie ganz legal nicht wählen durften, weil sie Bürger zweiter Klasse waren, von Amts wegen. Nein, das ist antiquiert. Es gibt viele Arten von Rassismus heutzutage und sie haben alle mehr mit Betroffenheitsgefühlen zu tun, nicht mehr mit Diskriminierung durch das Gesetz. Auch Rassismus ist heute intersektionell: „individueller“ Rassismus, „systemischer“ Rassismus, „struktureller“ Rassismus, „institutioneller“ Rassismus, „subtiler“ Rassismus, „verinnerlichter“ Rassismus, „verdeckter“ Rassismus, „impliziter“ Rassismus, ja sogar „Intelligenzrassismus“ gibt es, nebst „Colourism“ oder, noch besser, „shadeism“ (ins Deutsche könnten die Begriffe mit den Termini „Farbismus“ und „Schattismus“ übersetzt werden) und zu guter Letzt, den in Mode gekommenen „Alltagsrassismus“.

Eine schwarzafrikanische Kollegin, die ihre Dissertation über Rassismuserfahrungen verfasste, erklärte mir gelassen, Rassismus sei nicht etwas Objektives, etwas klar Definierbares, eine Situation, in der man Person A absichtlich und voreingenommen gegen Person B aufgrund von biologischen Merkmalen (wie zum Beispiel Hautfarbe), der sexuellen Orientierung, von Ethnizität, usw. diskriminiert. In so einem Fall könnten ja ein Schwarzer, ein Weißer, ein Inder und ein Chinese problemlos übereinstimmend feststellen, ob es um Rassismus geht oder nicht. Rassismus, so der letzte Schrei, wäre vielmehr etwas Nebulöses, unfassbar Komplexes, Subjektives, und hätte mit den eigenen „Erfahrungen“ zu tun – eine Art neue ideologisch legitimierter „Ich-bin-die-Welt“-Rationalismus. Und das ist, vereinfacht gesagt, die Basis auch für den Begriff des „Alltagsrassismus“, mit dem „Menschen mit Migrationshintergrund“, vulgo Ausländer, ständig konfrontiert wären.

Woher kommst Du? – Nicht einfach eine ganz normale Frage

So wurde immer wieder erklärt, dass es rassistisch wäre, würde man einer Frau mit Hidschab, die den Namen Sertab Yildiz auf dem Namensschild hat, die Frage stellen, woher sie komme. Wieso? Weil man eben von der Annahme ausgehen würde, Frau Sertab Yildiz wäre keine Deutsche, sondern Türkin. Oder noch schlimmer, in der Türkei geboren, anstatt in Gelsenkirchen. Auch die Frage, woher die Eltern „ursprünglich“ kämen, wäre rassistisch. Denn Frau Yildiz könnte den deutschen Pass haben, und dies würde bedeuten, dass qua Einbürgerung alles Türkische aus ihr mit einem Schlag für immer ausgetilgt wurde. Mit dem deutschen Pass würde sich „das Türkische“ verpuffen und plötzlich würde sie den Drang verspüren, mit Marianne und Michael im Musikantenstandel zu Heinos „Blau blüht der Enzian“ mitzuschunkeln. Auch Komplimente wie „Du kannst aber gut Deutsch!“ sind rassistisch, denn man unterstellt ja, dass Ausländer nicht so gut Deutsch sprächen wie Muttersprachler. Die Beobachtung, dass Schwarzafrikaner meist krause Haare haben, ist auch, wie denn sonst, Alltagsrassismus. Menschen, die sagen, sie würden alle Menschen gleich behandeln und keine Unterschiede zwischen den Hautfarben machen, sind auch Rassisten, denn so würden „wesentliche Teile der Realität und Lebensrealität“ der „People of Colour“ geleugnet – das Zitat stammt von einer Twitter-Userin zum Thema „Alltagsrassismus“, die unabsichtlich perfekt darstellt, wie weit man es eigentlich heutzutage mit dem Thema Rassismus übertreiben kann.

Osteuropäer und „Alltagsrassismus“

Man stelle sich einmal vor, wie oft man gefragt wird, woher man komme, wenn man nicht Max Mustermann, sondern Ion Popescu heißt und in Westeuropa wohnt. Oder Iwan Iwanowitsch Iwanow. Hätte ich diese Frage als „Alltagsrassismus“ bezeichnet, hätte man mich bestenfalls verspottet und mir empfohlen, nach Rumänien zurückzukehren, als Osteuropäer hat man in dieser Situation schlechte Karten. Und man versteht als solcher gleich: Dieselbe Frage ist dieses Mal kein „Alltagsrassismus“. Als mich zuletzt der Augenarzt, ein betagterer Herr, fragte, ob ich, meinem Namen nach, aus Italien käme, erwiderte ich empört, dass diese Frage ein Beispiel des „Alltagsrassismus“ wäre. Während die junge Assistentin mit dem Bleistift in der Hand für ein paar Sekunden erstarrte, brach der Herr in herzhaftes Gelächter aus. Ich habe gerne mitgelacht. Dass Menschen mir sagten, mein Deutsch wäre gut, habe ich nie als „rassistischen Angriff“ betrachtet, sondern als wohlgemeintes Kompliment.

Das Beste war aber mein letzter Türkeibesuch: Die erste Frage, die mir alle Menschen, vom Brotverkäufer bis zum Universitätsprofessor, gestellt haben, war – ja, Sie haben es erraten! – woher ich komme, noch bevor ich meinen Namen sagen konnte. Die Reaktionen auf meine Antwort „aus Rumänien“ sind unterschiedlich ausgefallen, von Verkäufern, die mir ein paar Sätze auf Rumänisch sagten („ce faci, bine?”) bis hin zu Menschen, die mich gefragt haben, ob das irgendwo in Russland wäre. Als ich einer Gruppe jungen Türken, allesamt Masterstudenten an Istanbuler Universitäten, erklärt habe, dass man in Europa die Frage nach der Herkunft als „Alltagsrassismus“ bezeichnet, brach schallendes Gelächter aus. Und das gab mir ein äußerst gutes Gefühl.